SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

„O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“ Diese erste Strophe stammt vom Mainzer Jesuiten Friedrich Spee, der evangelische Barockdichter und Pfarrer Johann Rist hat weitere sieben Strophen dazu gedichtet und ordnet es liturgisch dem Karfreitag zu.

Das Lied wurde bald - wenn auch nicht mit allen acht Strophen - in katholische und evangelische Gesangbücher aufgenommen. Leider sind längst nicht alle Strophen in den Gesangbüchern auch bewahrt worden.

Strophe 1

Der Zahn der Zeit hat von diesem mit barocker Sprachgewalt gestalteten Lied wenig übrig gelassen. Die Jesusminne eines Johann Rist, der mit allen poetischen Mitteln einer Braut- und Blutmystik die harten Herzen der Menschen zu erweichen sucht, war nachfolgenden Generationen fremd, ja theologisch anstößig. Besonders die zweite Strophe: „O große Noth! Gott selbst ligt todt“ erregte Widerspruch. Die Theologie konnte sich schließlich gegenüber der Poesie durchsetzen, und so wurde im 19. Jahrhundert flugs umgedichtet: „O große Not, Gotts Sohn liegt tot“. Dogmatisch unanfechtbar, aber doch längst nicht so ergreifend wie das Original. Dabei lag dem klugen Lutheraner Johann Rist gewiss nichts an einer verfälschten Kirchenlehre. Er wollte der Gemeinde die Passion buchstäblich ans Herz legen, die Menschen erschüttern über das, was am Kreuz geschieht: Gott selbst liegt tot!

Nun, diese Umdichtung blieb nicht die einzige. Es folgten vielfältige Kürzungen. Nach und nach sind verschwunden: Zuerst das lieblich Bild, schön, zart und mild und das Söhnlein der Jungfrauen, dann im Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950 Gottes Lamm als Bräutigam, das neue Evangelische Gesangbuch meinte dann auch auf den süßen Mund als Glaubensgrund verzichten zu können. Barock war nicht mehr in Mode. Als letzten barocken Rest bewahrt das Evangelische Gesangbuch lediglich die letzte Strophe.

Strophe 5

Immerhin, die Tränen zeigen noch ein wenig von der ursprünglichen Überschwänglichkeit der Trauer über das Leiden und Sterben Christi, die eigentlich alle sieben von Rist gedichteten Strophen geprägt und ausgezeichnet hatte. „O Jesu du, mein Hilf und Ruh, ich bitte dich mit Tränen: hilf, dass ich mich bis ins Grab nach dir möge sehnen.“ Schade eigentlich! Denn manchmal ist es ja gerade das Fremde, Verstörende, das wirklich gute Poesie auszeichnet. Möglicherweise ist das zunächst einmal schwer verdaulich, passt jedoch besser in die Passionszeit als poetisch seichte Kost. Möglicherweise erschließt mir der emotionale Zugang zur Passion Christi einen neuen Weg, das Kreuz für mich zu begreifen - jenseits rein rationaler Reflektion. Viele Menschen suchen heute solche neuen Wege, etwa indem sie meditieren. Die SprachBilder des Johann Rist wollen die Herzen berühren. „Gott selbst ligt todt. Hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb´erworben“. Und: Liebe hat nun einmal viel mit unserem Herzen zu tun. Und unserem Gefühl.

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Strophe 1
aus der CD Sammlung Johann Seb Bach, Complete Edition 9/10, Chamber Choir of Europe, Ltg Nicol Matt Brilliant Classics, LC 09421

Strophe 5 ,
aus der CD „Ein Choralbuch für Johann Sebastian Bach - Passion“, Gächinger Kantorei, Helmut Rilling LC 06047

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21593
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