Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Bevor ich Hörfunkpfarrer geworden bin, war ich dreizehn Jahre im Gemeindedienst. Eine meiner wichtigsten Aufgaben dabei war, unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Davon gab’s wahrlich genug: Theologen, die vieles besser gewusst haben und einfache Leute, die sich nie getraut hätten, den Mund aufzumachen. Solche, die mit Kritik an der Kirche nicht gespart haben und andere, denen die Treue zum Papst über alles ging. Ich habe es immer für richtig gehalten, dass in einer christlichen Gemeinde alles Platz hat, was zum menschlichen Leben gehört, und dass keiner ausgeschlossen wird. Ich kann nicht behaupten, dass das immer reibungslos funktioniert hat. Aber auch wenn es anstrengend wurde, hat sich die Mühe jedes Mal gelohnt. Weil es sich auf die Atmosphäre in der Gemeinde übertragen hat - und kein tiefer Riss, keine Spaltung entstanden ist. 

Ganz anderes beobachte ich derzeit in unserer Gesellschaft. Von manchen Politikern bin ich sehr enttäuscht. Es ärgert mich, wie sie sich in der Flüchtlingsfrage äußern. Sie sagen: „Wir sind überfordert. Wir haben nicht genügend Platz und Arbeit. Wir müssen unsere Kultur schützen. Unsere Frauen und Kinder brauchen mehr Sicherheit.“ Unter einer Führungsrolle, verstehe ich etwas anderes. Politiker tragen Verantwortung für viele unterschiedliche Menschen. Also müssen sie ihren „Laden zusammen halten“, unterschiedliche Meinungen ausgleichen. Statt dessen haben es sich viele zur Aufgabe gemacht, die Schwierigkeiten zu betonen und damit die ohnehin aufgeladene Stimmung noch mehr aufzuheizen - anstatt sich für den Zusammenhalt einzusetzen. Genau das aber erwarte ich von ihnen. Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten geben die Richtung an. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Bürger ihren Entscheidungen und Maßnahmen vertrauen. Sie sollten sich keinesfalls zum Sprachrohr der Bedenkenträger machen, die alles klein reden, was es doch an Toleranz und Engagement unter uns gibt.

Ich leugne überhaupt nicht, dass augenblicklich zu viele Menschen in kurzer Zeit zu uns kommen. Das ist nach einhelliger Meinung die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber in der Herausforderung steckt auch eine wunderbare Chance: Wir können zeigen, zu wie viel Solidarität und Menschlichkeit wir in der Lage sind - wenn wir zusammen halten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21519
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