SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Ich hoffe, Sie sind gut reingekommen – in dieses neue Jahr. Es ist noch ganz frisch. Liegt vor uns wie ein unbeschriebenes Blatt. Wie ein Neugeborenes, dem die Zukunft offen steht.
Nochmal neu beginnen können. Das wäre schön. Ich spüre den Zauber, der in diesem Anfang liegen könnte. Aber bei Licht betrachtet: Wirklich neu ist das Jahr ja gar nicht.
Gut, im Datum hat sich die Jahreszahl geändert. Aber ich? Ich bin der Alte geblieben. Und auch an meiner Lage kann ich keine Veränderung entdecken. Mein Leben ist nicht heil.
Und wenn ich in die Welt blicke, wenn ich die Nachrichten höre, stelle ich fest: Die Themen heute Morgen sind dieselben wie gestern Abend. Die Welt ist weder vernünftiger, noch friedlicher geworden.
„Seid ihr noch ganz bei Trost“, möchte ich denen zurufen, die meinen, ihre Konflikte weiter mit Gewalt lösen zu müssen – im Kleinen wie im Großen. Die die Erde ausbeuten als gäbe es noch eine zweite. Die rücksichtslos alle anderen beiseite drängen, denen es gleichgültig ist, was um sie herum geschieht: „Seid ihr noch ganz bei Trost?“
Dabei wünsche ich mir doch gerade das so sehr: Ganz bei Trost zu sein im neuen Jahr. Nicht wahnsinnig zu werden bei all dem Wahnsinn, den ich mitbekomme. Bei Verstand zu bleiben, auch wenn die Menschen um mich herum verrücktspielen. Nicht in Panik verfallen, wenn es äußerlich drunter und drüber geht. So könnte das neue Jahr vielleicht doch anders werden als das alte.
Das Bibelwort für dieses Jahr spricht mir da Mut zu: „Ich will euch trösten“, sagt Gott, „wie einen seine Mutter tröstet.“ Wie gut es tut, das zu hören.
Ich muss an Marie denken. Meine kleine Nichte. Im Sommer haben wir im Hof Ball gespielt. Da ist sie hingefallen, hat sich das Knie aufgeschürft. Nichts Ernstes. Doch die Vierjährige hat losgebrüllt – wie von Sinnen. Alles Zureden, alle guten Worte haben nichts geholfen. So sehr war sie gefangen in ihrem Schmerz, in ihrer Wut.
Auf einmal stand die Mutter in der Tür. Sie hat Marie in den Arm genommen. Noch ein paar Schluchzer. Dann hatte sich Marie beruhigt. Sie hat ein Pflaster bekommen und die Welt war wieder in Ordnung. Nach einer Weile konnten wir sogar weiterspielen.
So verstehe ich den Zuspruch Gottes: „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.“ Für mich ist das mehr als ein süßlich-sentimentales Gefühl.
Wenn Gott tröstet, ist der Schmerz nicht mehr übermächtig. Die Angst wird weniger. Ich muss nicht panisch reagieren, sondern kann vertrauen, kann bei Trost bleiben und besonnen handeln. Und ich kann hören, was andere mir sagen. Ich bin nicht mehr allein. …

Dabei geht es um mehr als um ein Beruhigen oder ein oberflächliches Vertrösten nach dem Motto: „Kopf hoch, wird schon wieder.“
Gottes Trost geht tiefer. Das steckt auch in unserem deutschen Wort „Trost“. Ich habe im Herkunftswörterbuch nachgeschaut. Das Wort „Trost“ wurde ganz ursprünglich für harte, feste Dinge gebraucht, etwa für einen Eichenstamm.
Übertragen meint „Trost“ also etwas Festes, etwas, was mich zuverlässig trägt. Etwas, an das ich mich halten kann und das mich festhält. Wenn ich vertrauen kann, dass Gott bei mir ist und mir tragen hilft, wenn ich es glauben kann, dass Gott die Macht hat, Situationen zu verändern – auch schwierige Situationen, auch Kummer und Angst –, dann kann ich innerlich fest sein, ganz bei Trost.
Wie macht Gott das? Wie tröstet er? In der Bibel, in der Apostelgeschichte, wird von einem Mann namens Josef erzählt. Er war so eine Art Gemeindeleiter unter den ersten Christen in Jerusalem und Syrien. Und er war einer, der trösten konnte.
Josef hat die langen Wege nicht gescheut. Ist Menschen nachgegangen. Hat ihnen Mut zugesprochen. Bei ihm haben sie sich verstanden gefühlt und getröstet. Und haben sich nicht mehr allein gefühlt.
Josef konnte Menschen zusammenbringen. Dabei ist er Konflikten nicht aus dem Weg gegangen. Im Gegenteil: Er hat sich sogar mit dem großen Apostel Paulus angelegt. Aber er hat darauf geachtet, dass es fair zugeht. Da musste sich keiner mit aller Kraft schützen. Denn keiner musste Angst haben, unter die Räder zu kommen.
Ich glaube, das ist der Grund, warum die Menschen damals Josef einen Spitznamen gegeben haben. Sie haben ihn „Barnabas“ gerufen – auf Deutsch: „Sohn des Trostes“. Er hat den Menschen gezeigt: Da ist einer, der dich hält. Auf Gott kannst du dich verlassen.
So bin auch ich schon oft getröstet worden durch Menschen, die mir ihre Anteilnahme gezeigt haben. Die mir beigestanden haben in schweren Zeiten. Sie haben das Unglück ausgehalten und sind mir nicht aus dem Weg gegangen.
Durch solche „Töchter und Söhne des Trostes“ habe ich gespürt: Ich bin nicht allein. Gott hat mich nicht vergessen. Er ist da – auch wenn ich ihn gerade nicht spüre.
Und sie haben mir in Gottes Namen auch ganz praktisch geholfen. Auf einmal gab es wieder einen Weg in der scheinbar ausweglosen Situation. Wenn falsches Selbstmitleid mich ganz verrückt gemacht hat, haben sie mir die Augen geöffnet. Da war ich dann wieder ganz bei Trost.
Dass auch Sie dies im neuen Jahr erfahren und ganz bei Trost sein können – das wünsche ich Ihnen von Herzen!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21114
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