Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Die junge Frau ist bildschön. Sie hat Abitur gemacht und dann eine Ausbildung. Inzwischen ist sie 24, verheiratet und Mutter von einem kleinen Sohn. Ihr Mann arbeitet, materiell geht es ihnen sehr gut. Sie hat alles, um glücklich zu sein, sagt sie und weint bitterlich, weil sie es trotzdem nicht ist. Auf der Suche nach Gründen erzählt sie von den Widersprüchen, in denen sie aufgewachsen ist. Ihre Eltern sind in den 70er Jahren nach Deutschland gekommen wegen der Arbeit. Aber mit den Gegensätzen der beiden Kulturen sind sie selbst nicht zurecht gekommen. Von ihrer Kultur wollten sie retten, was sie retten konnten. Gleichzeitig sollten sich die Kinder in der Schule, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen waren, nicht zurückgesetzt fühlen. Ganz schwierig wurde es in der Pubertät. Weggehen, sich mit Jungs treffen, einen Freund haben, nachts in die Disco gehen. Das war einfach zuviel. So saß die junge Frau als 15 jährige tagelang zu Hause in ihrem Zimmer, starrte die weißen Wände an und wartete. Sobald sie konnte, kaufte sie sich ein Handy, ihr Draht nach außen, und dann hat sie nächtelang wenigstens telefoniert.

Es sind immer mehr junge Frauen türkischer Herkunft, die Beratung suchen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Die Geschichten ähneln sich. Ich wünschte, ich könnte diese Menschen zusammen bringen. Sich von der Seele reden, was einen bedrückt, sich gegenseitig erzählen, wie man damit fertig geworden ist, spüren, dass es anderen genauso geht, das hilft immer. Sie trauen sich nicht. Das wäre Verrat an ihrer Familie. Mich erschüttert das. Was die Frauen erleben, ist nicht ihr Privatproblem. Es ist auch das Ergebnis einer bestimmten Politik. Die Verantwortlichen haben nicht wahrgenommen, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland Menschen sind mit einer eigenen Geschichte und einer anderen Kultur.
Gott sei Dank wird heute anders über Einwanderung nachgedacht und darum gerungen, was angemessene Voraussetzungen dafür sind.

Ich erlebe, wie erleichtert die jungen Frauen sind, wenn ich nur interessiert zuhöre, nachfrage und verstehe. Gesehen zu werden, jemanden finden, der erkennt, wie viel Stärke sie trotz allem entwickelt haben, das ist schon viel.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=2104
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