SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

Das Herz steht für die Mitte, das Innerste, das Zentrum eines Menschen. In der Bibel wird das Herz umfassend verstanden, sie siedelt Vernunft und Gefühl eines Menschen im Herzen an. Menschen, die ein weites und weiches Herz haben, sind nach biblischer Auffassung kluge Menschen. Wer dagegen sein Herz verhärtet, entwickelt ein gestörtes Verhältnis sowohl zu seinen Mitmenschen als auch zu Gott. Der Theologieprofessor Valentin Thilo, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebte, kannte seine Bibel. Und er setzte auf das Herz der Menschen als rechten Ort der Adventsvorbereitung. Hier, im Herz der Menschen, entscheidet sich der Advent, entscheidet sich, ob Gott eine Chance hat, in der Welt anzukommen. Das Herz ist die Krippe: Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt!

Wenn ich an die Lebensgeschichte von Valentin Thilo denke, wundert mich, dass er sich ein weiches Herz bewahren konnte. Seine beiden Eltern starben an der Pest, als er gerade 13 Jahre alt war. Ein Jahr, bevor er sein Adventslied schrieb, starb seine Schwester. Der Trostort des Dichters, eine Laube an der Pregel in Königsberg, wurde enteignet und zerstört. Hier hatte er sich mit Freunden, die allesamt geistliche Dichtung pflegten, zu tröstlichen und fröhlichen Abenden getroffen. Der Verlust traf ihn schwer.

Zwar wurde seine Stadt Königsberg im Dreißigjährigen Krieg verschont, doch den Großteil seines Lebens verbrachte der Dichter in Kriegszeiten. Ich stelle mir vor, dass ihm sein weiches Herz das Leben gerettet hat in dem Sinn, dass er sich selbst nicht verloren ging im Schrecken der Welt. Es klingt paradox, aber manchmal ist es lebenswichtig, im Schmerz das Herz gerade nicht zu verschließen, sondern es zu öffnen. Ein weiches Herz kann mitfühlen und mit anderen trauern. Ein weites Herz behält die Menschengeschwister im Blick und teilt mit ihnen Freude und Schmerz. Thilo dichtet: Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht, ein Herz, das Hochmut übet, mit Angst zugrunde geht. Zugleich ist das durchaus kritische Dichtkunst: Hier greift Thilo das Motiv des Lobgesangs der Maria auf, die davon singt, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzt. Nicht jeder hochmütige Fürst wird diese Liedstrophe gern gesungen haben.

Vielleicht ist es für uns Menschen heute, in diesen Zeiten der Bedrohung durch Krieg und Terror neu verständlich, wie außerordentlich die Worte „zu dieser heilgen Zeit“ klingen. Was ist heilig, wenn Menschen sterben, wenn Menschen Angst haben, wenn unsere Freiheit und unsere Werte bedroht sind, wenn Millionen Menschen auf der Flucht sind? Thilo vermochte, in Not und Furcht sein Herz weit zu halten, es zu öffnen für die Ankunft des HERRn. So entdeckt er einen Zufluchtsort, unzerstörbar, in sich selbst, in seinem Herzen. Einen Ort, in den Gott selbst einziehen will.

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Jeremy Filsell, Marcel Dupré- Complete Organ Works 12,
Heilige Nacht. Mainzer Domchor

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