Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Die schwersten Wege werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.


So beginnt ein Gedicht von Hilde Domin. Eine Bekannte schickte es mir. Im vergangenen Frühjahr ist ihr Mann gestorben. Mehr als 40 Jahre haben sie zusammen gelebt und sind zusammen gewachsen. In guten und in schlechten Tagen. In den letzten Jahren haben sie die Früchte davon geerntet. Auf einmal ist das alles zu Ende. Jetzt ist keiner mehr da, zu dem sie morgens noch unter die Bettdecke kriechen kann, der sie in den Arm nimmt. Keiner mehr, der ihr das Garagentor aufmacht, wenn sie einkaufen fährt. Keiner mehr, der sie über die wichtigsten Nachrichten schnell informiert.
Sie sagt: Ich muss ganz neu leben lernen. Aber ich will es auch. Ich glaube, dass mein Leben trotzdem noch einen Sinn hat. Ich möchte meine Fähigkeiten nicht jetzt schon begraben. Ich habe auch als alte Frau noch Aufgaben. Ich möchte mich nicht gehen lassen. Das habe ich meinem Mann versprochen. Oft bin ich traurig, dass er nicht mehr da ist. Ich weine auch viel. Aber ich erlebe auch sehr viel Schönes.

Diese Frau zeigt offen beides: ihre Trauer und ihren Lebenswillen. Ich spüre ihr Gottvertrauen. Es ist ihre Kraftquelle. Auch darüber spricht sie offen. Das Bild dieser Frau, ihr aufrechter Gang haben sich in mir tief eingeprägt. Ich würde gerne so alt werden wie sie.
Ohne zu verzweifeln oder zu resignieren, ohne bitter zu werden trotz aller Traurigkeit und Enttäuschungen, mit allen Zweifeln und Ängsten.

Im Gedicht von Hilde Domin heißt es weiter:

Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
Und den Schritt, den der Fuß noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich umdrehen hilft nicht.
Es muss gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
Wie in den Katakomben
Das kleine Licht atmet kaum
Und doch, wenn du lange gegangen bist, bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=2103
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