Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Am 25. November 1881 wurde in einer ärmlichen italienischen Bauernfamilie ein kleiner Angelo Giuiseppe geboren. Er war das dritte von 13 Kindern, und es war ihm nicht an der Wiege gesungen, dass die Welt einmal auf ihn schauen würde. 78 Jahre später wurde Angelo Roncalli zum Papst gewählt und nahm den Namen Johannes XXIII. an. Man sah ihn als Übergangspapst, als einen, von dem nicht allzu viel zu erwarten ist. Er war der Typ des liebenswerten gutmütigen Großvaters, der gern seine Ruhe hat und alle in Ruhe lässt.

Aber man hat sich in ihm gründlich getäuscht. Johannes XXIII. hat das Zweite Vatikanische Konzil ausgerufen und damit die größte Reform der katholischen Kirche eingeleitet. Er wollte die Fenster der Kirche weit aufmachen und hat in Kauf genommen, dass der Luftzug dann so manches durcheinander wirbelt. Vieles von dem, was heute an Papst Franziskus geschätzt wird, hat Johannes XXIII. schon vorgelebt. 

Es gibt eine Menge Anekdoten über ihn. Eine beeindruckt mich immer wieder. 

Als Johannes XXIII. noch Erzbischof von Venedig war, erhielt er eines Tages den Hinweis, einer seiner Priester sei Alkoholiker und vernachlässige seine Gemeinde. Spontan sagte er zu seinem Sekretär: „Da müssen wir hin!“ Im Pfarrhaus fanden sie ihn nicht, die Leute schickten die beiden in die nächste Kneipe. Johannes bat seinen Sekretär, den Priester zu holen. Der Sekretär musste erst nach ihm suchen und fand ihn schließlich in einem Hinterzimmer. Johannes ging mit dem Pfarrer allein ins Pfarrhaus. Dort sagte der Bischof zu dem verlotterten Priester: „Setz dich, ich möchte bei dir beichten.“

Jesus hat gesagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Johannes hat dieses Wort auf seine ganz eigene Weise verwirklicht. Er hat nicht gnädig von oben herab darauf verzichtet zu verurteilen, er hat dem andern seine Würde zurückgegeben. Ihm gezeigt, wer er trotz aller Fehler und Verfehlungen immer noch ist: ein Kind Gottes, ein Freund Jesu – und mein Bruder.

Johannes XXIII. war eine Ausnahmeerscheinung unter seinen Zeitgenossen, und er wäre es auch heute. Ich bin froh, dass es immer wieder solche Ausnahmeerscheinungen gibt. Denn an ihnen sehe ich, was das Evangelium in einem Menschen bewirken kann. Vielleicht ja auch in mir.

 

 

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20937
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