Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ein Muslim hat das schönste Buch über das Christentum geschrieben, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Der Titel: Ungläubiges Staunen. Und tatsächlich haben mich die Beobachtungen des Autors Navid Kermani zum Staunen gebracht. Wenn er zum Beispiel von den Heiligen spricht, wenn er darüber nachdenkt, was Gebet ist, dann ist fast alles neu für mich. Und ich kann mich nur wundern, dass ich selbst bislang so blind gewesen bin, das nicht zu entdecken. Es ist faszinierend, wie Kermani sich in die Welt eines Glaubens hinein versetzen kann, der gar nicht sein eigener ist. Er spricht sehr respektvoll vom Christentum. Das tut gut. Bei ihm finde ich genau das, was ich sonst oft vermisse, wenn Vertreter unterschiedlichen Glaubens übereinander sprechen: Fingerspitzengefühl.

Gleichzeitig macht Kermani kein Geheimnis daraus, dass manches dabei nicht seine Zustimmung findet. Er glaubt nicht daran, dass Gott in bloß einem Menschen, in Jesus, Mensch geworden ist. So manche katholische Vorstellung kommt ihm recht heidnisch vor: dass da die Überbleibsel von Toten verehrt werden beispielsweise. Und dann die strenge Ordnung dort und die Demonstration von Macht, die stoßen ihn ab. Das ist deutlich. So deutlich, dass ich schlucken muss. Aber im nächsten Moment verstehe ich nur zu gut, was er meint. Immer dann nämlich, wenn er auf eines der Geheimnisse und Wunder des christlichen Glaubens zu sprechen kommt.

Er spricht dann von Maria – als Jungfrau, die von Gott getroffen worden ist, und als Mutter, die sich um ihren Sohn sorgt. So wie Mütter das eben tun, wenn der Sohn eigene Wege zu gehen beginnt. Kermani fühlt sich intensiv in die Personen der Bibel ein. Und weil er das als Unbeteiligter tut, sieht er häufig ganz neue Seiten. Ungewöhnliche Zusammenhänge. Auf einem Bild, das Maria und Jesus zeigt, entdeckt er zwei Liebende. Da staune ich wieder. Warum eigentlich nicht? Es tut mir gut, die bekannten Dinge neu zu sehen. Und ich frage mich, ob ich wohl viel zu starr geworden bin in meinen Vorstellungen, allzu selbstsicher im Glauben. Staunen tut gut. Ich bin froh, dass ich es noch nicht verlernt habe; nicht ganz wenigstens.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20836
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