Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es ist ungewohnt, wenn ein Redner in aller Öffentlichkeit plötzlich zum Gebet einlädt. Navid Kermani hat das gemacht, als er vor wenigen Wochen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekam. Am Ende seiner Preisrede sagt er:

 Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um etwas Ungewöhnliches bitten (...). Ich möchte Sie bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten, (…). Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so bitte ich Sie, (…) beten Sie für die Christen von Qaryatein, beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern können Sie sich dafür auch erheben, damit wir den (...) Terroristen ein Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.

Dann entsteht eine Stille, die durch Mark und Bein geht. Ich war nicht dabei in der Frankfurter Paulskirche. Aber das hat sich sogar übers Fernsehen auf mich übertragen. Wie plötzlich die dort anwesende Versammlung den Atem anhält. Es wird dafür wahrscheinlich recht unterschiedliche Gründe gegeben haben. Die einen sind irritiert und wissen nicht, was sie davon halten sollen. Andere fühlen sich vereinnahmt, können sich aber nicht wehren. Wieder andere staunen über den Mut, dass Kermani sich das traut, so öffentlich zu machen.

Ein Muslim ruft in Deutschland zum Gebet auf. Für einen katholischen Priester, der in Syrien entführt wurde. Zusammen mit vielen anderen. Von fanatischen Muslimen des sog. Islamischen Staats. Er macht das, mitten in einer Gesellschaft, die in der Regel sonst ganz gut ohne Religion und Gott auszukommen meint. Kermani hat für seinen Schritt viel Kritik einstecken müssen. Es gehöre sich nicht, Menschen fürs Gebet zu vereinnahmen in aller Öffentlichkeit. Ich dagegen bewundere seinen Mut, so offen zu zeigen, was ihm Halt gibt und Hoffnung, und dass er andere dazu einlädt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20832
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