Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Ja, wie jetzt? Die ganze Zeit zerrst du an der Leine und jetzt willst du nicht?“
Emil streicht mir um die Beine.
„Los lauf. Du bist frei! Nutz‘ die Gelegenheit!“
Aber Emil schaut mich nur mit seinen großen, braunen Hundeaugen an. Er weicht nicht von meiner Seite, obwohl ich ihn von der Leine gelassen habe.
Ich drehe mich zu meiner Frau um: „Komisch, eben hat er noch gemacht wie ein Wilder. Immer an der Leine gezerrt. Und jetzt?“
Meine Frau läuft weiter: „Freiheit ist eine seltsame Sache! Jeder will sie, aber irgendwie macht sie auch Angst.“
Der Apostel Paulus hat zum Thema Freiheit geschrieben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Er meint, dass man zur Freiheit erst befreit werden muss. Dass man die von selber nicht unbedingt sucht.
Meine Frau schaut Emil an, der ganz dicht bei uns bleibt. „Es sieht so aus, als ob er sich an der Leine besser fühlt. Vielleicht weil er sich dann sicherer fühlt.“
„Sicherer?“, frage ich, „wenn ich ihn an der Leine habe?“
„Ja!“ Meine Frau ist sich sicher: „Solange du ihn an der Leine hast, weiß er, wo er hingehört. Er weiß, dass du ihn beschützt.“
„Das ist ein Riesenhund!“, sage ich, „der soll doch eher mich beschützen.“
Meine Frau schaut mich an: „Das geht uns doch allen so. Freiheit oder Sicherheit. Was ist dir lieber?“
Das ist eine schwierige Frage. Am besten beides, denke ich.
Ich sehe Emil an. Langsam geht er mal einen Schritt weg von uns. Vielleicht muss er sich erst an die Freiheit gewöhnen.
„Manche wollen mehr Freiheit, andere wollen gesagt bekommen, was sie tun sollen.“ Meine Frau macht eine kleine Pause. „Ich glaube, aus dem Dilemma kommen wir einfach nicht raus.“
Emil läuft jetzt zwischen uns hin und her und auch mal weiter weg. Ich schaue ihm nach und sage: „So ein Hund hat’s manchmal auch leichter.“

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