Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Weihnachten komme ich wieder.“

So habe ich es Mitte Oktober 1984 zu meinen Eltern gesagt, als ich von meiner Geburtsstadt Kassel nach Freiburg zum Studium gefahren bin. Ich hatte eine tolle Zeit vor mir, die viele neue Erfahrungen bringen würde.

Ich weiß, dass es zumindest für meine Mutter eine lange Zeit war, dennoch habe ich es durchgezogen. Aber telefoniert habe ich immer mal wieder.

Für zweieinhalb Monate Abschied zu nehmen ist schon eine lange Zeit. Wobei diese Zeit meist für die schwerer ist, die zurückbleiben und warten.

Ende September hat mich eine Meldung aufgeschreckt: Eine seit dem Jahr 1984 in Braunschweig vermisste Studentin ist nach 31 Jahren durch Zufall in Düsseldorf entdeckt worden. Dort hat sie unter einem anderen Namen gelebt. Ihre Eltern sind nach einigen Jahren den vielleicht schwersten Schritt gegangen und haben ihr Kind für tot erklären lassen. Der Verdacht hatte sich erhärtet, dass sie ermordet worden ist. Aber es gab keine Leiche.

Ein Abschied auf immer, den die damals 24-jährige Frau in die Tat umgesetzt hat. Ich frage mich, was einen Menschen wohl veranlassen kann, einfach zu verschwinden und die bisherige Lebensgemeinschaft ohne Vorwarnung zurückzulassen. Mir ist bisher nichts eingefallen, dass mich dazu bringen würde.

Ich frage mich auch, ob ich in der Lage wäre, alle Brücken hinter mir abzubrechen und einfach zu verschwinden. Und da spüre ich, dass ich das meiner Frau und meinen Kindern niemals antuen würde.

Überzeugt bin ich jedoch davon, dass es wichtig ist, im Gespräch miteinander zu bleiben, sich Zeiten zu nehmen, in denen alle Beteiligten in Ruhe miteinander reden können. Denn nur dann haben Familien die Chance zu erfahren, was den anderen bewegt, was ihm oder ihr Freude bereitet oder auch das Leben schwermacht.

Und sie haben die Chance, ihren Weg gemeinsam neu zu besprechen. Vielleicht auch manchmal mit professioneller Hilfe eines Therapeuten.

Das ist natürlich keine Sicherheit dafür, dass Familien nicht auseinanderbrechen. Miteinander zu reden gibt jedoch den Mitgliedern zumindest die Möglichkeit, gemeinsam die Entscheidung zu treffen, auseinanderzugehen. Keiner bleibt dann überrumpelt zurück.

Ich wünsche mir, dass wir Menschen niemals den Mut verlieren, miteinander zu reden. Denn hier gilt: Schweigen ist Silber – Reden ist Gold.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20712
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