SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich will mich erinnern an Gelesenes, an Gehörtes, Gesehenes. Deshalb schreibe ich Tagebuch. Es begleitet mich, lässt Erinnerungen nicht verblassen. Es behält im Gedächtnis, was mir wichtig ist: Begegnungen, Orte, Texte.
So ist es mir mit der dreibändigen Autobiografie All das Vergangene des Schriftstellers und Philosophen Manès Sperber gegangen. Sie hat mich tief beeindruckt und begleitet mich. Hier schreibt ein Mensch über die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, verarbeitet, was er erlebt hat. 
Manès Sperber - geboren 1902, gestorben 1984 - war seiner Herkunft nach Ostjude, so hat er sich selbst bezeichnet, aber hinzugefügt ...und trotzdem der deut­schen Kultur in schmerzlicher Untrennbarkeit verbunden. Gesagt hat er das in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Frie­denspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 1983.  Er hat die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs erfahren, musste vor Verfolgungen als Jude fliehen, erlebte Armut, Ausgrenzung und Heimatlosigkeit.  So belastend diese Erfahrungen waren: Im Verlust war immer auch Auferstehung. Vielleicht weil ihn etwas bestimmte: die Liebe und der Glaube an den Menschen, an eine menschengerechtere Welt.
Nachdem er so viele Brüche in seinem Leben erfahren musste, sagt er: Ich bin ein alter Revolutio­när, der den Hoffnungen, die er begraben musste, treu geblieben ist. Ja, ich glaube nach wie vor, dass die Welt verändert werden kann...  Und ich glaube an die Botschaft meiner Ahnen: an das Kommen des ewigen Friedens, an die Wandlung der Schwerter zu Pflugscharen.
Manès Sperber wollte sich erinnern, wollte weitergeben, was er im Leben erlebt, was er erlitten und auch, was ihn bewahrt hat. Das war sein Antrieb zu schreiben. Seine Lebensgeschichte zeigt, dass sich ein Mensch seiner Geschichte mit allen schmerzlichen Verlusten stellt, sie nicht beschönigt und Gegenwärtiges im Vergangenen spiegeln kann.

Es ist wichtig, sich seiner Geschichte zu stellen, sich zu erinnern. So kann ich meine Gegenwart, den eigenen Ort im Leben besser verstehen. Wer ich bin, erschließt sich mir durch die Geschichte, die zu mir gehört, die mich geprägt hat. Sich damit auseinanderzusetzen, ist Aneignung des Gewesenen.
Auch die Bibel  ist erinnerte Geschichte. Martin Buber nennt sie eine erinnerte Gotteslehre. Diese Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament  wollen erinnert und immer wieder neu bedacht werden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20704
weiterlesen...