SWR1 3vor8

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Wenn man einen Schuldigen hat, kann man leichter ertragen, was passiert ist. Das geht mir jedenfalls so und das ist anscheinend nicht neu. „Wenn du hier gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen.“ (Joh 11, 21) Eine trauernde Frau hat das zu Jesus gesagt. Der Satz gehört zu einer biblischen Geschichte. Und über die wird heute in den evangelischen Gottesdiensten gepredigt.
„Wenn du hier gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen.“ Wie viel Schmerz in diesem Satz steckt. Der Bruder ist gestorben. Ich kann mir vorstellen, wie das ist: Die Knie werden weich. Die Stimme zittrig. Die Welt bricht in sich zusammen. Sie hatte doch nach Gott gerufen. Trotzdem ist der Bruder tot. Warum musste das passieren, warum musste er sterben? Solche Fragen nagen wahrscheinlich an jedem in so einer Situation. Dann kommen leicht Vorwürfe: „Warum hast du das zugelassen, Gott? Wenn du hier gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen.“
Ich kenne das, dass ich anderen Vorwürfe mache. Weil ich unzufrieden bin. Weil es bei der Arbeit gerade zu viel ist. Oder weil das Leben einfach nicht rund läuft. Manchmal weiß ich gar nicht, warum eigentlich. Oder ich weiß ganz genau, bei welchen Entscheidungen ich die falsche Wahl getroffen habe. Warum hat mir da keiner geholfen? Ich kenne auch den Schmerz, dass eine liebe Person weg ist. Und es mir den Boden unter den Füßen weg zieht. Warum lässt Gott das zu?
Irgendwo muss ich das dann abladen. Deswegen finde ich diesen Satz so bemerkenswert: „Wenn du hier gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen.“ Ich versuche, mich an dieser trauernden Frau zu orientieren. Sie war mutig genug, Jesus anzusprechen. Sie hat bei ihm alles abgeladen, was sie gerade beschäftigt hat. In den Worten, wie sie ihr gerade über die Lippen kamen. Und Jesus hat es ihr nicht übel genommen. Jesus scheint das gut ertragen zu können. Den ganzen Kummer. Er hört zu. Nimmt den Schmerz auf. Er ist da. Er zeigt damit, wie Gott den Schmerz seiner Menschen hört – und tragen hilft. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund.
Mir hilft es, wenn ich Gott mein Leid klage. Dabei kann ich ganz laut werden. Mit Vorwürfen um mich werfen. Aber auch ganz leise, wenn ich sprachlos bin. Ich glaube, Gott versteht das. Egal, ob ich laut oder leise bin. Er hört mich. Oft geht es mir dann besser. Ich sehe wieder klarer, wo ein Weg für mich ist. Ich fühle mich mindestens um mein halbes Leid erleichtert. Einfach, weil ich es abladen konnte. Und ich merke: Gott ist da – auch wenn es sich zuerst nicht so anfühlt.

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