Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Am Beginn der großen Pause haben wir früher in der Schule manchmal die Vesperbrote getauscht. Irgendwie durcheinander. Jeder mit jedem. Nicht, dass die von den anderen unbedingt besser waren. Aber jedenfalls waren sie anders. Interessanter. Hochzufrieden hatte am Ende jeder, was ihm geschmeckt hat.
Nur Manfred hatte nichts. Seine Eltern konnten ihm nichts mitgeben. Oder sie haben nicht daran gedacht. Oder sie hatten keine Zeit. Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls: Manfred hatte nichts zum Tauschen. Also hatte er am Ende kein Vesper – wenn nicht Sonja ihn bemerkt hätte. Sie hat ihm die Hälfte von ihrem abgegeben. Und als sie gesehen hat, wie gut es ihm schmeckt, hat sie gesagt: „Morgen sage ich meiner Mama, ich möchte zwei.“
Mir ist diese Geschichte aus meiner Schulzeit wieder eingefallen, als wir über Barmherzigkeit diskutiert haben. „Ihr Christen mit eurer Barmherzigkeit“, hatte mein Gegenüber gesagt, „das ist doch aus Zeiten, als es Herren und Knechte gab. Irgendwie von oben herab. Ich finde, Solidarität passt besser in unsere Zeit. Solidarisch ist man auf Augenhöhe. Das ist irgendwie demokratischer. Ich brauche keine Barmherzigkeit. Ich will Solidarität.“.
Erstmal war ich verblüfft. Barmherzigkeit ist undemokratisch? Für mich war Barmherzigkeit bis dahin ein Grundwert meines Glaubens. „Seid barmherzig, wie Euer Vater barmherzig ist“ hat Jesus gesagt. Und „Selig sind die Barmherzigen!“ Und das ist undemokratisch, weil von oben herab?
Was dazu wohl Manfred sagen würde, der wochenlang jeden Tag von Sonja ein Vesperbrot bekommen hat? Was dazu die Flüchtlinge sagen, die in unser Land kommen und nichts haben, was sie eintauschen können gegen ein bisschen Entgegenkommen und freundliche Aufnahme?
Gewiss, es ist schön, wenn man gegenseitig teilen kann. Wenn jeder etwas zu geben hat und nehmen kann und alle profitieren. „Do ut des“ haben schon die alten Römer gesagt. „Ich gebe, damit du mir etwas gibst“. Aber die Verhältnisse sind nicht so. Damals nicht und heute auch nicht. Es gibt die, die kein Vesperbrot dabei haben und die anderen, denen es nichts ausmacht, zwei mitzubringen. Vielleicht ist das ungerecht. Sicher ist es das. Aber was konnte Manfred dafür?
Sonjas hat nicht „do ut des“ gedacht. Sondern: Ich gebe, weil du etwas brauchst  – und weil wir genug haben und abgeben können. Vielleicht hat sie das gar nicht gedacht. Wir waren in der Grundschule. Aber sie hat so gehandelt. Und Manfred macht das heute vielleicht genauso. Weil er sich erinnert.

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