Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Anfang Juli im Deutschen Bundestag. Ein kleiner Satz in einer Parlamentsdebatte: "Leiden ist immer sinnlos!“ Der Satz wird fast nebenbei gesagt. Als ginge es nicht um etwas, das jeden einzelnen Menschen betrifft. Weil jeder an etwas leidet, weil jeder mit dem Leid anderer konfrontiert wird. Weil keiner davor weglaufen kann. Weil das Leiden zum Menschsein gehört. Ein großer, schwerer Satz: „Leiden ist immer sinnlos.“

Anfang Juli im Bundestag. Es ist eine der seltenen Sternstunden parlamentarischer Auseinandersetzung. Sachlich nüchtern wird über ein Thema debattiert. Über die Grenzen der Parteien hinweg. Ohne Fraktionszwang. In der Parlamentsdebatte geht es um die Frage: Welche Freiheit hat ein Mensch am Ende seines Lebens? Genauer: Darf ein anderer ihm helfen, aus dem Leben zu scheiden? „Assistierter Suizid“ heißt das im Fachjargon. Es geht um die Entscheidung, wie frei der Mensch sein darf, wenn es ans Sterben geht. Und da fällt im Verlauf der Debatte jener Satz, der mich regelrecht umhaut. „Leiden ist immer sinnlos.“ Gesagt hat diesen Satz Peter Hintze von der CDU, von Hause aus evangelischer Theologe. Im ersten Moment meine ich, mich verhört zu haben. Er muss doch das Gegenteil meinen. „Leiden ist nicht immer sinnlos.“ Aber nein, Hintze hat schon gesagt, was ich gehört habe. Und je länger ich darüber nachdenke, desto ungeheuerlicher finde ich seine Behauptung. Gerade aus dem Mund eines Theologen.

Wenn ich eine Sache im Laufe meines Lebens immer besser verstanden habe, dann die: Das Leid, das mir begegnet, und das Leid, das sich selbst durchmache, bringen mich vorwärts, lassen mich mein Leben und die Welt besser verstehen. Aber nicht, weil das Leiden leicht wäre oder wünschenswert. Sondern weil es zum Menschen gehört. Es gibt kein Leben ohne Leiden. Und meine Erfahrung ist, dass in Verbindung mit ihm die entscheidenden Schritte im Leben passieren.

Der Kern des Christenglaubens ist eine Leidensgeschichte. Jesus Christus ist am Kreuz gestorben. Deshalb kämpfen Christen gegen das Leid im Diesseits und sie hoffen auf ein Ende des Leids im ewigen Leben. Aber sie wissen, dass sie nicht am Leid vorbei kommen. Ja, dass sie ihm einen Sinn abgewinnen müssen. Ich frage mich, wie Herr Hintze das einem Menschen erklären will, der leidet, wenn es kein Mittel gegen sein Leiden gibt. Wenn alles sinnlos sein sollte, was wir mit unserer Menschenkraft nicht beseitigen können, dann gnade uns Gott.

 

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