Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Alle haben Ferien. Nur ich nicht. Dabei wollte die Zeit bis zu den Sommerferien gar nicht vorbei gehen. Und jetzt, wo es endlich soweit ist, kann ich nicht weg. Weil mein Chef in den ersten Wochen verreist, und ich ihn vertreten muss. „Stallwache“ nennt man das. Ich will nur hoffen, dass kein Gaul im Stall scheu wird in den nächsten drei Wochen. Also kein Unglück passiert. Dann könnte nämlich auch die Zeit in den großen Ferien schön sein, wo ich gar keine Ferien hab. Jedenfalls mache ich mal ein paar Pläne. Für diese Zeit, in der der Rhythmus des Lebens so spürbar anders ist, als sonst das Jahr über. Langsamer vor allem. 

Das Erste, was ich plane: Jeden Tag eine besondere Kleinigkeit, zu der ich sonst keine Zeit oder Ruhe finde. Beispielsweise eine neue Ecke in der Stadt zu erkunden. Nicht immer in die gleichen Ecken zu gehen, in denen ich schon so oft gewesen bin. Ich stelle mir vor, das könnte jedes Mal eine kleine Entdeckungsreise werden – mit neuen Einblicken.

Zu was ich sonst auch so gut wie keine Zeit finde: zum Briefe schreiben. Früher war ich da ungemein eifrig. Fast jeden Tag bin ich zum Postkasten gelaufen, war immer mit den neuesten Sonderbriefmarken ausgestattet. Inzwischen kommuniziere ich fast ausschließlich per E-mail und Telefon. Manchmal keimt der alte Wunsch in mir auf, den Füllfederhalter in die Hand zu nehmen und jemanden eine ganze Seite oder mehr zu schreiben. Aber dann scheue ich den Aufwand. Und das betrübt mich. Ich weiß auf Anhieb ein paar Menschen, denen ich schreiben will. Wann, wenn nicht jetzt!?

Noch etwas Drittes nehme ich mir vor. Ich bin ja nicht der einzige, der jetzt noch keinen Urlaub hat. Viele Menschen haben Bereitschaft und halten „den Laden am Laufen“ – in Kliniken, bei der Post, in den Geschäften, im Freibad. Wie wäre es, wenn ich jeden Tag mit einem von ihnen Kontakt aufnehmen würde? Mit einem Freund oder Kollegen, von dem ich weiß, dass er auch gern frei hätte wie ich. Ich hoffe, dass sein Rhythmus auch weniger hektisch ist in diesen Tagen; dass er Zeit hat, mit mir ein bisschen zu plaudern, oder sich in der Mittagspause auf ein kleines Essen zu verabreden oder am Abend auf ein Feierabendbier.

Wenn’s klappt - vielleicht nicht alles, und auch nicht jeden Tag - könnten die kommenden Wochen ganz schön werden. Ein bisschen Ferien ... ohne Ferien.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20284
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