Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sie war mir sofort sympathisch – die Frau, mit der ich in der Citykirche Reutlingen ins Gespräch gekommen bin.  Ihr mit Falten durchzogenes Gesicht hat pure Lebensfreude ausgestrahlt. „Sie haben eine wunderbar positive Ausstrahlung!“, sage ich bewundernd.
„Ich kann ja auch für vieles dankbar sein in meinem Leben!“, erwidert sie. „Und wenn ich das mal vergesse, dann erinnert mich meine Schale wieder daran!“
Und dann erzählt sie von der Schale, die bei ihr auf einem Beistelltisch steht.  Voll mit kleinen Zetteln, die sie jeden Tag schreibt. Auf einigen findet sich nur ein einzelnes Wort, auf anderen ein ganzer Satz. Angefangen hat alles mit der Idee aus einem Adventskalender. Und seitdem hat die Schale der Dankbarkeit ihren festen Platz bei ihr und erinnert sie jeden Tag daran, wie viel Gutes Gott ihr in ihrem Leben schenkt.
Es hatte für sie einen besonderen Tag im Jahr gegeben, hat die Frau weiter erzählt: den 1. August – ihren Hochzeitstag. An diesem Tag hatten sie und ihr Mann immer das Jahr Revue passieren lassen. Sie haben sich gefreut an allem Schönen, was sie gemeinsam erlebt haben. Und sie haben angestoßen auf das, was vor ihnen liegt. Als ihr Mann vor 10 Jahren gestorben ist, ist der 1. August ein trauriger Tag für sie geworden, hat die Frau dann gesagt. Aber nun hat sie vor drei Jahren die Schale der Dankbarkeit aufgestellt. Und sich so ihren Hochzeitstag zurückerobert! Jetzt liest sie sich an diesem Tag alle Zettel durch, die im Laufe des Jahres in ihre Schale hineingewandert sind. Schaut voll Dankbarkeit zurück auf das, was sie erlebt hat. Und voll Vorfreude voraus auf das, was noch vor ihr liegt.
Mir würde so eine Schale der Dankbarkeit auch gut tun, habe ich gedacht, als die Frau gegangen war. Schließlich gibt es in meinem Leben auch viel Schönes, für das ich Zettel in die Schale wandern lassen könnte: einen Spaziergang mit meinem Mann, ein Konzertbesuch, ein gutes Gespräch, ein leckeres Essen, ein spannender Krimi, ein schöner Abend mit Freunden und vieles andere könnte man da lesen. Aber wie oft gehe ich durch die Tage und Stunden ohne mich zu besinnen auf das Schöne, das ich jeden Tag geschenkt bekomme, oder bleibe mit den Gedanken an dem hängen, was nicht gut gelaufen ist.
Dietrich Bonhoeffer hat einmal geschrieben: „Im normalen Leben wird es einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch unendlich viel mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht.“
Eine Schale voll Dankbarkeit kann daran erinnern, meine ich. Vielleicht probiere ich es mal aus.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20233
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