Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Das Gefühl zu kurz zu kommen, kennt wohl jeder. Sei es, dass die Eltern den Bruder oder die Schwester bevorzugen oder dass der Kollege beim Chef beliebter ist.

In der Bibel gibt es ein typisches Beispiel für einen Menschen, der große Angst hat, zu kurz zu kommen. Da wird von einem Vater und seinen beiden Söhnen erzählt. Der eine will von zu Hause weg. Er lässt sich sein Erbe auszahlen, verlässt das Elternhaus und gibt das Geld mit vollen Händen aus. Völlig abgebrannt kommt er aus der Fremde zurück, und der Vater nimmt ihn mit offenen Armen wieder bei sich auf. Ohne Erklärung oder Entschuldigung. Der Vater freut sich, dass sein verlorener Sohn wieder zurück ist – alles andere ist ihm egal. Er richtet ein großes Begrüßungsfest aus. Der andere Sohn, der Ältere, kann das absolut nicht verstehen. Er ist zu Hause geblieben und hat dem Vater die ganze Zeit treu und brav geholfen. Ein großes Fest, wie sein jüngerer Bruder, hat er nie bekommen. Ich kann gut verstehen, dass sich der ältere Sohn vernachlässigt fühlt. Für ihn ist klar: ich komme mal wieder zu kurz. Wenn mein Bruder da ist, habe ich nichts zu melden.

Lange Zeit hat mich gestört, was der Vater dem Älteren sagt:
Mein Kind. Du bist immer bei mir. Und alles, was mein ist, ist auch dein. Komm, freu dich mit mir, dass dein Bruder zurück ist. Wie soll sich der Ältere freuen, wenn der andere doch anscheinend so bevorzugt wird? Erst macht er alles falsch und dann wird er belohnt und steht im Mittelpunkt.

Ungerecht – so könnte man urteilen – aber so sind wir Menschen nun eben hin und wieder.

Wenn man das Bild vom Vater aber auf Gott bezieht, lässt es sich eigentlich kaum noch ertragen. Was ist das für ein Gott, der solche Unterschiede zwischen den Menschen macht und dem einen scheinbar mehr gibt als dem anderen?

Vielleicht aber geht es letztlich gar nicht um das exakte Aufwiegen. Meine Eltern haben meinen Geschwistern und mir das immer wieder gezeigt. Jeder von uns hat das bekommen, was er gerade gebraucht hat. Und das war bei uns durchaus unterschiedlich. Ich bin froh, dass meine Geschwister und ich meistens dennoch nicht neidisch aufeinander waren. Jeder von uns hat gespürt, dass unsere Eltern es gut mit uns allen meinen. Keiner braucht Angst zu haben, zu kurz zu kommen. Ich kenne Familien, in denen das leider nicht so geklappt hat. Aber vielleicht hilft meine Erfahrung auch anderen, die Reaktion des Vaters in der biblischen Erzählung besser zu verstehen. Gott ist nicht jemand, der aufwiegt. Sondern er ist einer, der sich um alle sorgt und der uns von der Angst, zu kurz zu kommen, befreien will. Er weiß, was wir brauchen. Darauf können wir vertrauen.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20186
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