Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich liebe die Arbeitsaufträge meiner Tochter! „Kannst du bei meiner Freundin meinen Computer abholen?“, zum Beispiel. Meine Tochter studiert in Stuttgart und hat den PC ihrer Freundin mitgegeben. Ich soll ihn wieder zum Laufen bringen. Und jetzt soll ich zur Freundin im Nachbarort fahren und ihn abholen. Was soll ich sagen? Natürlich kann ich das machen, auch wenn meine Tochter den Computer eigentlich selbst vorbeibringen wollte.
Also setze ich mich am nächsten Tag ins Auto, fahren zu der angegeben Adresse und klingle bei der Familie, deren Namen ich kaum aussprechen kann. Ich weiß, die Leute kommen aus Indien. Als ich die Treppe hochgehe, versuche ich mir vorzustellen, was mich erwarten wird. An der Gegensprechanlage habe ich schon gemerkt, dass es mit Deutsch nicht so ganz einfach wird.
Bei solchen Begegnungen spüre ich immer eine Mischung aus Angst und Neugierde: Angst vor dem Fremden, was mich da erwartet, aber auch Neugierde, was das für fremde Menschen sind. Es ist so ein bisschen wie im Urlaub, wenn man in ein fernes Land reist und hofft, dass einem das Essen wie zu Hause schmeckt aber man auch ein neues, fremdes Land entdecken möchte.
Viel Zeit blieb mir nicht für meine Gedanken, schnell war ich im dritten Stock angekommen. Schon an der Wohnungstüre kommen mir ungewohnte Gerüche entgegen, irgendwie riecht es so, wie ich mir Indien immer vorstellte.
Und dann ist da die Freundlichkeit der beiden Menschen, die Eltern der Freundin. Natürlich könne ich den Computer gleich mitnehmen, aber zuerst soll ich doch einmal herein kommen. Ob ich mich nicht kurz hinsetzen und etwas trinken wolle? Oder vielleicht auch etwas essen?
Soll ich? Ich bin doch eigentlich ein ganz Fremder für diese Menschen, kann ich mich da so einfach ins Wohnzimmer setzen? Unschlüssig stehe ich im Flur und überlege, denn eigentlich wollte ich nur kurz den PC abholen. Auf der anderen Seite - ich war noch nie in einer indischen Familie. Dann siegt die scheinbare Vernunft: ich bleibe dabei, dass ich keine Zeit habe und leider wieder los muss.
Heute ärgere ich mich über meine Hektik. Ich hätte mir diese Zeit einfach nehmen sollen – das wäre sicherlich gegangen. Dann hätte ich diese indische Familie kennen lernen können – jetzt habe ich vermutlich keine Gelegenheit mehr dazu – eigentlich schade.
Daher habe ich mir fest vorgenommen: Wenn mir so etwas mal wieder passiert, dann werde ich mir Zeit nehmen, denn nur so können aus Fremden vielleicht Freunde werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20136
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