Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Können Sie einmal vorbei kommen und für meinen Mann beten?“ Die Frau sieht mich mit große Augen an. „Natürlich“, will ich gerade antworten. Ich weiß ja, dass ihr Mann Krebs hat. Aber das sagt sie noch: „Sie wissen doch, dass es da in der Bibel so ein besonderes Gebet um Heilung gibt“. Jetzt bleibt mir die Antwort fast im Halse stecken. Heilung? Was erwartet diese Frau da von mir? Am Ende vereinbaren wir einen Termin Ende der Woche. Für mich etwas Zeit, um mir zu überlegen, wie ich mit diesem Wunsch umgehen soll.
Auf jeden Fall lese ich erst einmal diese Bibelstelle aus dem Jakobusbrief etwas genauer. Da steht: „Wer von euch krank ist, soll die Ältesten der Gemeinde rufen, damit sie für ihn beten“ (Jak 5, 15) und „der Herr wird die betreffende Person wieder aufrichten.“
„Aufrichten?“, das hat mich etwas beruhigt. Hier steht ja gar nicht, dass der Kranke wieder körperlich gesund wird. Aufrichten bedeutet doch eher: Auch im Krankenbett den Kopf wieder heben zu können, oder die Sorgen abzulegen. Aber ich muss sagen, auch ich hatte immer nur dieses „gesund“ werden in Erinnerung – so wie wahrscheinlich viele andere auch.
In den folgenden Tagen habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ich wusste: der Mann schon eine Darm OP hinter sich, jetzt waren Geschwüre auf der Lunge festgestellt worden. Wenn er nun wünscht, ich soll für ihn beten, dass Gott in ihn gesund macht? Was sollte ich dann tun? Ich weiß doch, dass Gott nicht jeden Menschen gesund macht, der sich das von ihm wünscht.
Ein paar Tage später haben wir uns im Wohnzimmer der Familie getroffen. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ihn zuerst einmal ganz offen zu fragen, für was wir beten sollen. Aber war das nicht klar? Mitte 60 ist man doch noch viel zu jung zum Sterben.
Ganz ruhig hat mir der Mann geantwortet: „Ich bitte Gott nur um etwas mehr Zeit für meine Familie. Ich möchte meine Frau nicht alleine mit unserem behinderten Sohn lassen. Vielleicht kann Gott mir noch etwas Zeit schenken?“ Ich war erleichtert, dass er nicht von meinem Gebet und damit von Gott erwartet hat, dass er jetzt gesund würde. Etwas mehr Zeit – das war sein Wunsch an Gott.
Fünf Jahre später habe ich diesen Mann beerdigt. Da wusste ich, dass ich ein Wunder miterlebt hatte: Die Ärzte hatten den Krebs ganz gut in den Griff bekommen und so hatte der Mann noch rund fünf Jahre geschenkt bekommen. Kurz vor seinem Tod habe ich ihn ein letztes Mal besucht, da hat er mir gesagt: „Ich bin Gott sehr dankbar für diese Jahre. Sie waren nicht leicht. Der Krebs war ja immer da. Aber ich habe immer gewusst, dass jeder meiner Tage ein Geschenk Gottes ist.

 

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