Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Fühlen Sie sich frei? Können sie tun und lassen, denken, glauben und sagen, was Sie wollen? Ja, finde ich oft, in unserem Land sind wir frei. Ich kann sagen, was ich denke, glauben, was ich will oder nichts glauben, einen Beruf aussuchen, der zu mir passt. Ich kann heiraten oder es bleiben lassen, mit einer Frau leben oder mit einem Mann. Alles geht. Das ist längst nicht überall auf der Welt selbstverständlich.
Halt mal, sagen Sie jetzt vielleicht: Das stimmt doch überhaupt nicht. Ich kann längst nicht alles sagen, was ich denke. Was meinen Sie, was mein Chef sagen würde. Ich kann auch nicht gehen, wohin ich will – was denken Sie, wie meine Kinder das finden würden. Ich muss mich anpassen und Rücksicht nehmen. Und im Beruf stehe ich unter Druck. Wenn ich versage, ist schnell ein anderer an meiner Stelle. Deshalb komme ich mir manchmal vor wie im Hamsterrad. Ist das frei?
Mir sind solche Fragen eingefallen, als ich neu über einen ganz wichtigen Satz der Reformation nachgedacht habe. In einer seiner Hauptschriften hat Martin Luther nämlich geschrieben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“[1] Stimmt das denn? Bin ich eine freie Herrin über mein Leben? Luther damals wollte den Menschen die Last abnehmen, es allen Recht machen zu müssen. Nur wenn ich alles gut und richtig mache und so, wie es mir Kirche und Obrigkeit vorschreiben, bin ich ein guter Mensch. Nur dann komme ich in den Himmel. Damit hat man die Menschen unter Druck gesetzt. Unfrei gemacht. Und damit setzen viele sich heute noch unter Druck. Vielleicht ist es ihnen nicht mehr so wichtig, in den Himmel zu kommen. Aber es recht machen, keine Schwierigkeiten haben und Anerkennung finden – das wollen doch die meisten. Oder nicht? Ich jedenfalls schon. Dagegen hat Luther damals den Leuten gesagt: Mach dich nicht verrückt. Gott hat dich gut geschaffen. Und für ihn bist du richtig und gut, auch wenn du nicht alles schaffst, was die anderen von dir erwarten. Auch, wenn du nicht alles so hinkriegst, wie die Nachbarn und Kollegen. Du bist etwas wert, auch wenn du nicht mehr funktionierst. Und niemand kann dir vorschreiben, was du denken und glauben sollst.
Ich finde, das kann einen frei machen. Ich bin mehr als die Summe dessen, was ich leiste. So kann ich mich dann auch um andere kümmern. Meine Arbeit machen. Für Freiheit sorgen. Egal, was andere davon halten und über mich denken.



[1]Martin Luther, Von er Freiheit eines Christenmenschen, 1521

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20037
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