Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Solidarität“ – am 1. Mai von den Gewerkschaften gerne als alte Kampfformel  beschworen – ist für viele moderne Zeitgenossen zu einer leeren Hülse geworden. Das Pulver ist doch längst verschossen, meinen sie, und die geballte Faust: Sozialromantik von gestern! Weiß denn die junge Generation überhaupt noch, wie sich „Solidarität“  buchstabiert? Klingt nicht gerade sexy.

Ich kenne viele, die so denken. Dabei ist längst erwiesen, dass es ohne starke solidarische Organisationen und Verbände keinen sozialen Fortschritt gibt. Der wird uns auch heute nicht einfach nachgeworfen. Es stimmt immer noch: Solidarität ist das Stärkste, was die Schwachen haben. Warum kommt sie dann so abgehalftert und verbiestert daher? Vermutlich, weil wir sie immer mit Kampfgeschrei und Parolen in Verbindung bringen. Dabei ist sie auch zärtlich und schön.

„Solidarität – ein verdammt gutes Gefühl“, sagte mir mal ein Streikposten und hakte sich ein. Im schwäbischen Understatement kommt das schon einer Liebeserklärung gleich. Als mir einmal in der Fabrik ein türkischer Kollege einen Kaffee an die Maschine brachte, empfand ich es fast als Abendmahl. Einfühlsam fragt eine Büro-Kauffrau die  Kollegin nach ihrem kranken Kind. Ein kleines Geburtstagsgeschenk auf der Werkbank, ein paar Takte am Fließband für den, der heute einen schlechten Tag hat.  So also fühlt sie sich an, die Solidarität. Sie ist mit der Liebe verwandt, und darf sich wie diese entwickeln und entfalten. Wird sie erst zur Herzenssache, braucht man sich um sie keine Sorgen zu machen.

Ich vergleiche die Solidarität gerne mit der Solarenergie. Die muss erst in tausend kleinen Zellen erzeugt werden, denn der Saft einer einzigen Solarzelle reicht kaum aus für eine Stalllaterne. Erst zusammengeschaltet kommt ein gewaltiger Strom in Fluss.

Alles, was wir einfangen an Glück und Freude muss eingespeist werden in diesen großen Stromkreis: Das Glück einer Beziehung, das Lachen der Kinder, die Kraft der Religion, alles, was uns zuwächst an Anerkennung, alle Talente und Fähigkeiten. Eingekoppelt in den großen Schaltreis treibt dieser Strom einen mächtigen Generator an. Und der generiert Solidarität, die Kraft zur Veränderung. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19886
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