Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal braucht man jemanden, der einem die Augen öffnet. Weil man sonst nichts sieht.
Mit meinem Sohn war ich in einem berühmten Kunstmuseum. Großartige Gemälde gab es da, Dürer und Rogier van der Weyden, Boticelli und El Greco. Religiöse Bilder vor allem. Da kenne ich mich aus. Immer wieder sind mir Einzelheiten aufgefallen, die ich meinem Sohn gezeigt habe. Er hat zugehört, teilweise interessiert, teilweise höflich. Und ich war ein bisschen enttäuscht – in dem Museum waren kaum junge Leute, aber viele ältere. Interessieren die Jungen sich nicht für Kunst, habe ich mich gefragt.
Nachmittags sind wir noch in ein Museum für moderne Kunst gegangen. Da stand ich dann ein bisschen ratlos vor einem Gemälde von Picasso und konnte die „Frauen am Seineufer“ nicht finden. Nur Hände und Augen und einen Mund – irgendwo. Eigentlich wollte ich gleich weiter. Da sagt mein Sohn: „Warte doch mal!“ und bleibt vor dem Gemälde stehen. „Schau mal, hier liegt die eine Frau“, sagt er. „Die ist dunkel. Und daneben die andere, viel heller“. Und dann hat er mir erzählt, was er auf dem Bild alles sieht. Da habe ich es auch gesehen. Und noch viel mehr. Wir sind von einem Bild zum anderen gegangen und mein Sohn hat mir die Augen geöffnet. Er hat ohne bestimmte Erwartungen ganz neu hingeschaut. Und vieles gesehen, was mir zunächst wie Chaos schien. Und mit der Zeit ging es bei mir dann auch besser. Und auf einmal sind mir die vielen jungen Menschen aufgefallen, die in diesem Museum waren.
Manchmal braucht man jemanden, der einem die Augen öffnet. Gerade auch, wenn man älter wird und meint, schon alles zu kennen. Das habe ich in diesem Nachmittag im Kunstmuseum ganz neu begriffen. Kein Wunder, dass in den Gebeten der Bibel öfter mal die Bitte laut wird: „Öffne mir die Augen!“ Einmal heißt es: „So sehe ich die Wunder, die durch deine Weisung geschehen sind“ (Ps 119, 18) Ich glaube, das gilt nicht nur für Gemälde. Ich habe durch die Jahre einen ganz bestimmten Blick auf die Welt entwickelt. Mir fällt auf, was mir bekannt scheint und was ich nicht kenne, das fällt mir oft gar nicht auf. Oder ich finde es nicht wichtig. Vielen geht es sicher auch so mit Gott und seiner Schöpfung. Man sieht nur, was man kennt. Wenn man nicht gelernt hat, nach Spuren des Schöpfers zu suchen, dann sieht man nicht, wie wunderbar die Welt eigentlich geschaffen ist.
Ich habe an diesem Nachmittag im Museum gelernt, dass die jungen Menschen  uns älteren die Augen öffnen können. Und vielleicht hat ja mein Sohn auch was von dem mitgenommen, was ich ihm zu Dürers Gemälden erzählt habe. Wir sollten einander öfter zuhören. Damit uns die Augen aufgehen.

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