Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Heute mach ich es wahr, was ich mir schon lange vorgenommen hatte. Ich möchte von einer Frau erzählen, die ich für etwas Besonderes halte. Sie arbeitet in einem Café, und ich glaube, ihre Chefin nennt sie Anica. Das ist auch schon alles, was ich von ihr weiß. Ich bin nicht oft in diesem Café, aber wenn ich hinkomme, ist sie auch immer da, Anica, die Kellnerin. 

Am frühen Nachmittag füllt sich das Café. Viele sind Stammgäste, die allein kommen, überwiegend Frauen, meist älter, manche sind so alt, dass sie gerade noch den täglichen Spaziergang hierher schaffen. Sie sitzen an kleinen Tischchen, am liebsten allein und an ihrem Stammplatz. Nur wenn’s nicht anders geht, rücken sie zusammen. 

Die Kellnerin Anica kennt sie alle, begrüßt viele mit Namen. Sie weiß, wer was mag und gleich wieder bestellen wird. Sie weiß, wie der Kanarienvogel hieß, der vorgestern gestorben ist und sie nimmt Anteil an der Trauer um ihn. Sie kennt Geschichten von Menschen, die sie nie gesehen hat. Sie ist beunruhigt, wenn jemand ausbleibt, und erleichtert, wenn er wieder auftaucht, und sie fragt besorgt, ob alles in Ordnung ist. 

All das muss nebenher gehen, denn sie hat meist gut zu tun. Trotzdem setzt sie sich manchmal ganz kurz dazu. „Aber von Tee allein können Sie doch nicht leben“, sagt sie dann vielleicht. „Sie sind ja schon ganz schwach. Ich bring Ihnen jetzt mal eine Suppe.“ Beim letzten Mal höre ich sie am Nachbartisch leise sagen: „Haben sie jetzt mal was gegen Ihre Ängste unternommen?“ Und eine scheue Frau mit Perücke erzählt ihr, dass sie morgen zum Arzt geht. 

Die Kellnerin im Café ist keine Frau, die auffällt. Und doch ist sie so wichtig. Für Menschen, die sie brauchen. Die ohne sie vielleicht tagelang mit niemandem reden könnten. Die ohne sie vielleicht von niemandem vermisst würden. Sie ist Seelsorgerin und Therapeutin, ganz nebenbei, ohne es selbst zu wissen. Statt einer Ausbildung hat sie ihre Lebenserfahrung, einen gesunden Menschenverstand und – wie man so sagt – das Herz auf dem rechten Fleck.  

Natürlich brauchen wir professionelle Seelsorger und ausgebildete Therapeuten. Vor allem aber brauchen wir Menschen wie Anica. Menschen, die einfach ein Herz haben und auch noch eines, das auf dem rechten Fleck sitzt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19387
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