Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass in vielen Aufzügen heute eine Spiegelwand ist? Man tritt hinein und steht seinem lebensgroßen Spiegelbild gegenüber. Ist ja ganz praktisch, dass man beim Weggehen schnell nochmal prüfen kann, ob auch alles sitzt, die Krawatte, die Frisur, der Lippenstift. Ein Aufzugbauer sagte mir mal, eigentlich gehe es dabei gar nicht um einen netten Service, sondern um etwas ganz anderes. Man hat offenbar festgestellt, dass Aufzüge mit Spiegeln so gut wie nie zerkratzt oder beschmiert werden. Deshalb baue man heute gern Spiegelflächen ein. 

Nun kann es natürlich sein, dass auch Rowdies eitel genug sind, um sich erst mal mit ihrem Spiegelbild zu beschäftigen; dann wären sie einfach abgelenkt und kämen nicht auf dumme Gedanken.  

Aber vielleicht ist da auch noch was anderes im Spiel. Vielleicht können sich die meisten Menschen nicht selbst dabei zuschauen, wenn sie etwas Destruktives, Zerstörerisches tun. Vielleicht gibt es da eine innere Hemmung, eine Art Abschaltmechanismus, der dann greift, wenn ich mein Tun gespiegelt bekomme. Ich kann mir das gut vorstellen. Manches hätte ich vielleicht auch nicht getan, wenn ich mich gleichzeitig hätte im Spiegel sehen müssen. Haben Menschen vielleicht ein Urbild in sich von dem, was richtig und was falsch ist? Und damit auch ein ursprüngliches Bild von sich selbst, von ihrem Leben, vom Gelingen und Scheitern? 

Ich glaube, dass Gott mir ein solches Urbild ins Herz gelegt hat. Und ich glaube auch, dass ich dieses Bild niemals ganz vergessenkann. Aber im Lauf meines Lebens legen sich andere Bilder darüber, Bilder, die ich mir selbst mache, und solche, die andere von mir haben. Nicht alle passen zu mir. Manchmal spüre ich das auch, dass ich Bildern nachlaufe, die mir nicht gut tun. Und dann wieder kann es auch mal aufblitzen, dieses Urbild, meistens nur ganz kurz für ein paar Augenblicke. Dann habe ich das Gefühl: ich bin bei mir zu Hause, ich bin ganz ich selbst und muss nicht immer an mir herumbiegen.

Es ist gut, wenn ich dann und wann vor einem Spiegel stehe und mir ins Gesicht sehen muss. Und wenn ich dabei dann und wann etwas von meinem Urbild durchblitzen sehe und mich daran freue. Vielleicht so ähnlich, wie die jugendlichen Rowdies vor der Spiegelwand im Aufzug. 

 

 

 

 

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