Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Wie’s drinnen aussieht, geht niemand was an!“ Den Spruch kenne ich von meiner Oma. Bei ihr galt: Die Fassade muss stimmen. Ich glaube, es gibt viele Menschen, die nach diesem Motto leben. Marilyn Van Derbur war einer davon. Sie hat über ihre Geschichte ein Buch geschrieben.[1]
Ein erfolgreicher Vater, eine schöne Mutter, vier hübsche Töchter – die perfekte amerikanische Familie. Nachts ging der Vater zu Marilyn und missbrauchte sie. Die Mutter schwieg. Genau wie Marilyn. Wie‘s drinnen aussieht, geht schließlich niemand was an. Und so spaltete sich Marilyn in ein Tag- und in ein Nachtkind. Das traumatisierte Nachtkind wurde verbannt in die hinterste Ecke der Seele. Das Tagkind ging erfolgreich durchs Leben, wurde Miss America, später Moderatorin, stets lächelnd und ohne jede schmerzhafte Kindheitserinnerung. Erst als Marilyn 24 Jahre alt ist, drängt sich das Nachtkind in ihr Bewusstsein. Aber auch jetzt wahrt sie die Fassade und hält ihr Nachtkind vor der Außenwelt gut versteckt – Jahrzehnte lang.
Ich denke an meine Oma zurück und an andere Menschen, die ich kenne. Wie viele von ihnen haben wohl ein Nachtkind in sich verborgen? Und was haben ihre Nachtkinder wohl Schmerzhaftes erlitten? Die Geschichte von Marilyn Van Derbur zeigt eindrücklich: auf Dauer lässt sich ein Nachtkind nicht verstecken, der Schmerz und die Verletzungen kommen hoch – irgendwann, aber dann immer wieder. Sie ans Licht zu lassen, tut weh, aber es ist der erste Schritt zur Heilung.
Was dabei helfen kann, sind Menschen, die das Nachtkind liebevoll ansehen, lange bevor das Tagkind das kann. Solch einen Menschen hat Marilyn damals in einem Seelsorger gefunden. Er war der erste, der hinter ihrem Lächeln ihre Wunden erahnte und sie dabei liebevoll ansah. Dadurch hat Marilyn es geschafft, ihre Tarnung abzulegen und immer mehr von sich zu zeigen, auch gegenüber ihrem Mann. Und sie hat erlebt: egal, wie viel Hässliches sie von sich preisgab: auch ihr Mann hat seinen liebevollen Blick nie von ihr abgewandt. Das war ihre Rettung.
Ich finde, das kann man aus dieser erschütternden Lebensbeschreibung lernen: wie wichtig es ist, hinter die Fassade zu gucken und sensibel zu sein für den Schmerz, den manche Menschen tief in sich vergraben haben. Nur so kann Heilung geschehen – wenn ein Mensch liebevoll angeschaut wird mit all seinen Tag- und Nachtseiten.


1Marilyn Van Derbur, Tagkind – Nachtkind. Das Trauma sexueller Gewalt, 4. Auflage 2013. Die Originalausgabe mit dem Titel „Miss America By Day“ erschien 2003 in Denver.

 

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