Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Jetzt ist es also soweit. Eine Welt ohne Behinderungen ist möglich. Im Jahr 1997 haben Wissenschaftler die Erbmoleküle des werdenden Lebens im Blut von Schwangeren entdeckt. Seither geben die Forscher keine Ruhe mehr, um die Diagnostik immer weiter zu verbessern. Inzwischen sind die Methoden extrem genau. Bereits in den ersten Wochen einer Schwangerschaft können Ärzte sagen, ob mit dem Fötus alles in Ordnung ist. Oder ob es Abweichungen gibt. Fehler im Erbgut. Dazu braucht es keinen Eingriff in den Mutterleib mehr, keine riskante Fruchtwasser-Untersuchung. Eine einfache Blutprobe genügt.

Wissenschaftlich gesehen, ist das ein enormer Fortschritt. Aber wenn ich mir ausmale, welche Konsequenzen das nach sich ziehen kann, dann wird mir Angst und bange. Es wird in Zukunft möglich sein, dass Eltern schnell und genau wissen, ob ihr Kind gesund ist. Und ein gesundes Kind wollen verständlicherweise alle. Aber was heißt „gesund“? Welche Art von Defekten sollen damit künftig ausgeschlossen werden? Ist es die fehlende Niere oder die Lippen-Gaumen-Spalte oder ein Down-Syndrom? Am Ende könnte bereits genügen, wenn ein Kind einen angeborenen Hörfehler hat oder die Haarfarbe nicht stimmt. In Indien werden Föten schon aus dem Grund abgetrieben, weil sie weiblich sind.

Die Entscheidung ob eine Schwangerschaft abgebrochen wird, ist immer schwierig. Auch in Notlagen. Manche Frauen sind nach vielen Jahren nicht mit ihrer Entscheidung von einst im Reinen. Am Ende waren sie es, die „Ja“ oder „Nein“ sagen mussten, und dabei hat man sie oft allein gelassen. Aber auch wer sein Kind behält, es muss abgewogen werden, welcher Wert größer ist. Ein heranwachsendes Kind ist menschliches Leben, ist keine beliebige Manövriermasse und schon gar kein Spielball der Wissenschaft. Gleichzeitig ist es eine enorme Last, sich für ein Kind zu entscheiden, wenn man weiß, dass es schwer krank auf die Welt kommen wird.

In naher Zukunft wird die genetische Untersuchung eines Fötus medizinischer Standard sein und von den Krankenkassen bezahlt werden. Nicht nur bei Risikoschwanger-schaften wird darauf zurückgegriffen werden. Sondern alle können feststellen lassen, wie es um ihr Kind aussieht. Und dann unter Umständen sagen: „Das passt mir nicht. Das gefällt mir nicht. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“ Sie werden dann entscheiden können und müssen. Und es wird Mut und Größe und Stärke dazu gehören, unter gewissen Umständen JA zu sagen. „Ja, auch wenn Du eine Behinderung hast, will ich Dich als mein Kind.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19324
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