SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es gibt  eine ganz typische Situation in der Klinikseelsorge. Man klopft an eine Krankenzimmertür, begrüßt den Patienten oder die Patientin. Man hat Glück und ist gerade im richtigen Moment gekommen. Man spürt: die Chemie stimmt und man kommt miteinander ins Gespräch. Nach ein paar Minuten sagt der Patient, obwohl man gar nicht danach gefragt hat: „Wissen Sie, ich bin schon gläubig. Ich bete immer wieder. Aber ich bin kein Kirchgänger.“ Man spürt, dass sich die Patienten immer ein bisschen wie ertappt fühlen. Wie wenn man sie wie Knecht Ruprecht gefragt hätte: Na, immer brav gewesen? Immer in die Kirche gegangen?
Sicher wäre es wunderbar, wenn die Kirchen jeden Sonntag voll wären wie am Heilig Abend. Aber: Es ist mir immer unangenehm angesehen zu werden wie ein Kirchgangskontrolleur. Einer, der Menschen, denen es ja wahrhaftig übel geht, die Schmerzen haben, die ratlos sind – auch noch ein zusätzliches Problem verschafft: ein Stück schlechtes Gewissen, ein Stück Unsicherheit. Ich komme ja als Seelsorger, nicht als Kirchgangskontrolleur – und ich bin davon überzeugt: Gott führt keine Strichliste über unseren Kirchgang. Er verteilt keine Fleißkärtchen für die, die immer da waren und droht auch nicht mit Seligkeitsentzug all denen, die am Sonntag zuhause geblieben sind. Gott kommt gerade nicht zu denen, die ein Gewissen haben, so rein wie ein frisch gewaschenes Bettlaken. Er kommt zu denen, die wissen und spüren: aus sich allein heraus ist der Mensch ein eher fehlerhaftes Geschöpf, was sie tun, bleibt verbesserungsfähig.
Das hat Jesus gezeigt, als er den Zöllner Zachäus, der wohl nicht ohne Grund einen üblen Ruf hatte, besucht. „Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ So verloren, wie dieser Zöllner, der eine alles andere als blütenweiße Weste hatte. So verloren, wie das nicht getane Gute und wie das, was uns übel danebengelungen ist. Gott ist, in Jesus Christus, gerade zu uns gekommen, die wir nicht vollkommen sind, nur: ganz gewöhnliche Menschen mit ganz gewöhnlichem Egoismus und ganz gewöhnlicher Blindheit. Wir dürfen uns Gott gegenüber locker machen. Verbergen können wir ihm gegenüber eh nichts. Aber selig dürfen wir sein, dass Gott nicht pingelig auf die Erfüllung eines 10 Punkte Katalogs wartet. Dass es bei ihm nicht nur Recht gibt, sondern Gnade und Mitgefühl.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19266
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