Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Der ist für mich gestorben“, sagen Menschen, wenn sie nichts mehr miteinander zu tun haben wollen. Meist ist ein Streit vorausgegangen oder man wurde vom anderen so sehr verletzt, dass man ihn jetzt behandelt, als wäre er nicht mehr da.
Aber auch wenn man den anderen ignoriert: es gibt ihn. Und deshalb ist die Sache eben nicht ein für allemal bereinigt. Und das spürt man auch. Man hat ein schlechtes Gefühl. Ich glaube, dass dieses unangenehme Gefühl größer ist, je näher man der Person steht, die man ignorieren will. Wenn zum Beispiel Geschwister Jahrzehnte lang kein Wort miteinander reden, dann geht es ihnen ja nicht gut damit. Sie wissen, dass sie eigentlich zusammen gehören, auch wenn sie so tun, als gebe es den anderen nicht.
Auch die Christen in Rom zur Zeit des Apostels Paulus wussten, dass sie eigentlich zusammen gehören. Aber es hatten sich zwei Gruppen gebildet, die sich gegenseitig verurteilt und verachtet haben. Und ich stelle mir vor: Auch sie waren kurz davor, zu sagen: Mit euch wollen wir nichts  mehr zu tun haben.
In einem Brief fordert Paulus die Streitparteien deshalb auf: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15,7).
 „Nehmt einander an“. Paulus hat auf griechisch geschrieben und wenn man den Satz im Original liest, dann steht da sogar: Nehmt einander auf. Ich finde, das geht noch einen Schritt weiter.  Annehmen kann auch heißen: ich akzeptiere, dass der andere eine andere Meinung hat, oder dass er eben so ist wie er ist. Wenn ich jemanden annehme kann ich trotzdem auf Distanz zu ihm bleiben. Beim Aufnehmen geht das nicht. Aufnehmen heißt: Ich lasse den anderen an mich ran, ich verbringe Zeit mit ihm, ich bin mit ihm im Gespräch.
Ich glaube, so hat das auch Jesus gemacht. Wenn ich seine Lebensgeschichte in der Bibel lese, dann fällt mir auf, dass er niemanden ignoriert hat. Für ihn war niemand gestorben. Jesus hat den Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen gesucht, auch wenn sie eine ganz andere Meinung vertreten oder ein ganz anderes Leben gelebt haben als er. Er hat das Gespräch gesucht mit den strenggläubigen Pharisäern, mit den gebildeten Schriftgelehrten, mit Otto-Normalbürgern, mit Betrügern und Prostituierten.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“. Genau den Satz haben die christlichen Kirchen als Motto für das Jahr 2015 ausgesucht. Diese so genannte Jahreslosung soll einen durch das Jahr hindurch begleiten. Sie erinnert mich die Menschen, von denen mich manches trennt. Und sie lädt mich dazu ein, das Gespräch mit ihnen nicht abreißen zu lassen – und wo das schon passiert ist – es vielleicht sogar wieder aufzunehmen im neuen Jahr.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18944
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