SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

GL 145 

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude.

In vielen Situationen habe ich erlebt, dass dieses alte Sprichwort stimmt.

Wie gut tut es, wenn ich einer Freundin erzählen kann, was mich traurig macht oder gerade frustriert. Es verliert dadurch oft die Schwere.

Wie schön ist es aber auch, wenn sich jemand mit mir freut: Über die kleinen Dinge im Alltag genauso wie über die großen Feste im Leben.

Leid und Freude.

Im Kirchenlied „Wohin soll ich mich wenden“ benutzt der Wiener Professor Johann Neumann andere Worte. Er spricht von Gram und Entzücken.

Für mich klingen diese Worte ungewohnt. In der romantischen Sprache am Beginn des 19. Jahrhunderts sind sie aber ganz typisch:

 (Musik 1) Instrumentales Musikbett – darüber gesprochen:

Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?
Wem künd ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?

Johann Neumann hat für sich eine Antwort gefunden:

Gram und Entzücken – mit Beidem kommt er zu Gott.

„Zu dir, zu dir, o Vater“ heißt sein flehender Ruf in der Mitte der Strophe. Und die Musik bestärkt das durch die schnell aufsteigende Melodie.

(Musik 2): 1. Strophe (49 sec.)

Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?

Wem künd ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?

Zu dir, zu dir, o Vater, komm ich in Freud und Leiden,

du sendest ja die Freuden, du heilest jeden Schmerz.

 

Auch ich weiß, wie gut es tut, Gott mein Herz auszuschütten – auch wenn meine Worte heute, zweihundert Jahre später, sicher andere sind.

Die Botschaft des Liedes gefällt mir dennoch, denn ich bin Gott nicht egal. Mein Leben ist ihm wichtig.

Nichts anderes meint der Kirchenlehrer Augustinus, wenn er sagt, dass Gott sein Ohr an unseren Herzen hat. Für mich ist das eine der schönsten Beschreibungen für das Gebet.

Gott hört ganz genau hin, was in mir gerade los ist: da kann ich jubeln und danken, bitten, klagen und fragen oder auch einfach da sein – wie bei einem guten Freund.

Ich vermute, der Komponist Franz Schubert hat deshalb das Lied „Wohin soll ich mich wenden“ an die erste Stelle von insgesamt acht Gesängen gesetzt.

„Geistliche Lieder für das heilige Messopfer“ lautet der etwas sperrige Titel dieser Liedsammlung. Johann Neumann hat sie Anfang des 19. Jahrhunderts bei Schubert in Auftrag gegeben.

Und genau darum geht es auch am Beginn des Gottesdienstes: sich vor Gott zu versammeln mit all dem, was das Leben ausmacht und was das Herz bewegt.

Dem Lebensgefühl der Menschen damals kam das entgegen. Lange Zeit war allein die Vernunft das Maß aller Dinge gewesen. Gefühle waren nicht gefragt.

Schubert hat mit seinen eingängigen, zu Herzen gehenden Melodien dem etwas entgegengesetzt und in seinen Liedern den Inhalt der Messe für alle verständlich gedeutet.

Bis heute ist vielen Schuberts Vertonung als „Deutsche Messe“ bekannt. In vielen Chören gehört diese Messvertonung zum festen Repertoire und weil sie nach wie vor beliebt ist, hat das Lied „Wohin soll ich mich wenden“ im Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ nun auch einen festen Platz bekommen.

(Musik 3):

Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?

Wem künd ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?

Zu dir, zu dir, o Vater, komm ich in Freud und Leid

du sendest ja die Freuden, du heilest jeden Schmerz.

 

Musik 1:
Wohin soll ich mich wenden, Instrumentalfassung zum Mitsingen, Carus Verlag, „Aus meines Herzens Grunde“ 2012, CD 3, Track 15

Musik 2:
Wohin soll ich mich wenden, Carus Verlag, „Aus meines Herzens Grunde“ 2012, CD 3, Track 15

Musik 3:
M0098029; Nr. 1: Wohin soll ich mich wenden. Zum Eingang aus: Deutsche Messe mit dem Anhang "Das Gebet des Herrn" für vierstimmigen Chor und Orgel, D 872 (Anfang); Schubert, Franz Neumann, Johann Philipp
Bosert, Christoph; Norddeutscher Figuralchor; Straube, Jörg

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18600
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