SWR2 Zum Feiertag

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Rittberger-Klas: Heute feiert die Kirche das Fest Allerheiligen, den Gedenktag der Heiligen. Ich spreche darüber mit Dr. Ralf Lutz vom Lehrstuhl für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Herr Dr. Lutz, Sie sind katholischer Christ und Theologe – haben Sie einen Lieblingsheiligen?

Lutz: Ja, es gibt zwei, drei Gestalten, die mir persönlich viel bedeuten:  besonders nah ist mir Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens aus der ersten Hälfte des 16. Jh., weil er ein ganz großer Seelenführer war, der nach langem intensivem Suchen und Ringen gelernt hatte, dass, wer den Weg des Glaubens wirklich beschreiten will, damit anfangen muss, dass eigene Herz empfänglicher zu machen für die Begegnung mit Christus. Das fasziniert mich, weil sich da ganz viel Erfahrung und Menschenkenntnis spiegelt. Aber auch Johannes vom Kreuz, die mir viel über Gebet und Kontemplation beigebracht hat, oder frühe Gestalten wie Petrus und Paulus, weil sich in ihren Leben eine unglaublich kraftvolle und dynamische Auseinandersetzung mit Jesus zeigt.  

 

Rittberger-Klas: Was genau macht einen Menschen „heilig“?

Lutz:  Heilige zeigen uns, wie man das, was Gott von uns will und was unser Glück ist, hier auf dieser Erde leben kann. Sie haben mindestens eine Sache von Gott begriffen und diese dann ganz und vollständig gelebt, darin sind sie groß: etwa die Armut bei Franz von Assisi, oder die vertrauensvolle Hingabe an Gott im Gebet, oder vielfach die Freiheit: der Gottesglaube kann eine erstaunliche innere Souveränität und Freiheit eröffnen, die es erlaubt, den Mächtigen, aber auch der Ungerechtigkeit der Welt die Stirn zu bieten – immer sehr individuell, meist ziemlich radikal, aber unglaublich faszinierend und anziehend und nicht selten auch provokativ. Sie haben sich von Gott ansprechen und berühren lassen und haben mit ihrer ganzen Existenz, ihrem ganzen Leben geantwortet. Sie wollen uns zeigen, wie wir durchsichtig auf Gott hin leben können. Dadurch sind sie Gott ganz nahe gewesen und dadurch bringen sie uns Gott nahe – und zwar hier auf dieser Erde, mitunter in schwierigsten Verhältnissen.

 

Rittberger-Klas: Auch für mich als evangelische Christin gibt es aus allen Zeiten der Kirchengeschichte Christinnen und Christen, die ich als Vorbilder sehe. Die Heiligenverehrung wurde allerdings von den Reformatoren scharf kritisiert. Wo genau liefen da die Konfliktlinien – und wie ist die Situation heute?

Lutz: Die reformatorische Kritik an manchen Einseitigkeiten in der Praxis der Heiligenverehrung kann ich gut nachvollziehen, da hat Luther durchaus Richtiges gesehen, insbesondere wenn entsprechende Praktiken mit einem regelrechten Personenkult einhergingen, der den Weg zu Gott eher vernebelte als eröffnete. Dabei wurden die Heiligen selbst in den Mittelpunkt gestellt – wir würden heute vielleicht sagen: sie wurden zu Idolen gemacht – und nicht Gott, auf den sie eigentlich verweisen wollten. Heilige sind immer auch zeitbedingte Gestalten. Sie sind auch keine perfekten, fehlerlosen Menschen. Durch solche Vorstellungen sind sie uns entrückt worden. Eigentlich geht es auch gar nicht so sehr um sie, sondern um das, was sie uns von Gott zeigen. Heilige sind im besten Fall Wege zu Gott, sind wie Fenster, die zum Licht der Transzendenz geöffnet sind. Sie selbst werden daher auch nicht angebetet, sondern, wenn überhaupt, dann Gott in den Heiligen. Wir können sie aber verehren, so wie wir besondere Menschen verehren, die wir sehr schätzen. Und ja, wir brauchen unbedingt solche Vorbilder im Glauben, reale Gestalten, die uns zeigen, was es heißt, wirklich als Mensch zu leben.

 

Rittberger-Klas: Jenseits der Verehrung einzelner Heiliger bekennen sich alle Christen im Glaubensbekenntnis zur Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“. Sind Sie und ich dann also auch „Heilige“?

Lutz: Wir alle sind – nach dem Neuen Testament – zumindest zur Heiligkeit „berufen“, d.h. wir können und sollen „heilig“ und damit zu Söhnen und Töchtern Gottes werden. Das verbindet die Heiligen untereinander – die Verstorbenen, die jetzt Lebenden und die Zukünftigen – und es verbindet uns mit ihnen, die wir als Christinnen und Christen erst noch auf dem Weg dazu sind. Wir haben alle dasselbe Ziel: vollendete, liebende Gemeinschaft mit Gott. Nach meiner Überzeugung gibt es daher auch, das ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, viele „unentdeckte“, nicht kanonisierte, d.h. nicht offiziell von der katholischen Kirche anerkannte, Heilige unter uns – ich denke etwa an Mütter und Väter, die viel mehr für ihre Kinder tun, als sie selber eigentlich Kraft haben und dabei darauf vertrauen, dass Gott den Rest dazutun wird; oder alte Menschen, Kranke und Sterbende, die vielleicht den Tod vor Augen haben – und dennoch einen inneren Frieden ausstrahlen, weil sie sich in Gott geborgen wissen. Dass sind für mich „Heilige des Alltags“, die sich ganz auf Gott eingelassen haben und ihr Leben von seiner Wirklichkeit her verstehen und leben.

 

Rittberger-Klas: Eine Kirche, die sich „Gemeinschaft der Heiligen“ nennt, erweckt natürlich hohe Erwartungen an das Verhalten des Einzelnen – und die Enttäuschung, wenn Menschen, die sich als Christen bezeichnen, sich moralische Verfehlungen leisten, ist groß. Als Moraltheologe beschäftigen Sie sich auch mit der Frage, was Menschen motiviert, „gut“ zu handeln. Ist Glaube oder religiöse Überzeugung da tatsächlich ein Pluspunkt?

Lutz: Ja, unbedingt! Es ist schon erstaunlich, zu sehen, dass das Christentum seit seinen Anfängen eine unglaubliche Dynamik entfaltet hat, sowohl reflexiv, d.h. im Nachdenken über den Menschen, buchstäblich über Gott und die Welt, aber auch handlungsmäßig, d.h. in seiner Ausbreitung in der ganzen Welt und im Einsatz für viele Formen von Benachteiligung und Ungerechtigkeit. Woran das genau liegt, ist empirisch noch gar nicht so gut erforscht, aber theologisch kann man zumindest sagen: es kann sehr entlastend und ermutigend sein, zu wissen, dass ich auf Vergebung von Schuld hoffen darf, und zu erfahren, dass ich immer wieder neu anfangen kann – auch wenn menschlich vielleicht gar nicht mehr viel wiedergutzumachen ist. Es kann sehr befreiend sein, meine Fehler und meine Schuld ohne Angst Gott hinzuhalten – ohne sie verstecken, verschleiern oder anderen in die Schuhe schieben zu müssen. Oder dass ich nicht mehr mit allen Mitteln um Anerkennung, Bejahung und Rechtfertigung meines Daseins kämpfen muss – durch Leistung, Wissen, Ansehen oder Einfluss, sondern mir einen letzten Sinn meiner Existenz schenken lassen darf. Das alles kann enorme Potentiale freisetzen, die kaum zu überschätzen sind.

 

Rittberger-Klas: Martin Luther hat betont: Das Bemühen um gutes Leben, die „Heiligung“, ist nur möglich auf Grundlage der „Rechtfertigung“ – also dem Vertrauen darauf, dass mir meine Sünden vergeben werden. Moralisches Verhalten wird also nach seiner Theologie gerade nicht durch Vorschriften und Druck, sondern durch Befreiung von Druck und Angst ermöglicht. Stimmen Sie dem zu?

Lutz: Ja, da bin ich Luther ganz nahe: wir brauchen zwar moralische Normen, da sie uns davon entlasten, in jeder Situation immer selbst bestimmen zu müssen, was das Gute und Richtige ist, aber entweder wir tuen das als (moralisch) „gut“ Erkannte aus innerer Einsicht, aus Überzeugung und ureigenem Antrieb – oder wir können es letztlich gar nicht tun. Dass wäre sonst so, als wenn wir kleine Pflänzchen dadurch zum Wachsen bringen wollten, dass wir ein Gerüst um sie herum bauen. Das kann unterstützen, aber das innere (wachsen) Wollen kann es nicht ersetzen. Und dennoch, jetzt komme ich nochmals auf Luther zurück: wir können nicht einfach heilig werden, einfach weil wir es wollen und uns vielleicht sogar anstrengen – wir müssen uns erst grundlegend von der Angst um uns selbst befreien lassen.Erst wenn das rastlose Bemühen um Selbstbestätigung beruhigt ist, weil wir uns restlos in Gottes Händen wissen, können wir frei und entängstigt das Gute um seiner selbst willen tun.

 

Rittberger-Klas: Sie beschäftigen sich in ihren Forschungsprojekten und Lehrveranstaltungen ständig mit Wertvorstellungen und ethischem Verhalten – hilft Ihnen das für Ihre persönliche Lebenspraxis?

Lutz: Ja und Nein – es hilft mir einerseits, klarer zu sehen, worum es im Leben wirklich geht, aber auch wie gefährdet menschliches Leben doch ist. Diese Einsichten dann in das eigene Leben zu „übersetzen“, dabei hilft mir so ein Fest wie Allerheiligen, an dem wir an unsere Berufung als Christinnen und Christen zur Heiligkeit erinnert werden, an dem wir unsere Gemeinschaft mit allen Heiligen feiern. Wir feiern unser aller gemeinsames Ziel – liebende Gemeinschaft bei Gott als vollendete, d.h. „heilige“ Menschen – und zwar wir, die wir noch unterwegs zu diesem Ziel sind, mit denjenigen, die auf diesem Weg schon weiter gekommen, vielleicht sogar schon angekommen sind und uns jetzt zeigen können, wie es geht. So gesehen sind die Heiligen für mich auch Weggefährten für meinen Lebensweg.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18571
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