SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

»Der Mond ist aufgegangen«. Das Lied verbindet sich für mich mit dem Abend und der Nacht. Aber der Mond ist heute Nacht im Westen Deutschlands erst um zwei Uhr aufgegangen. Und steht jetzt am Morgen immer noch am Himmel. Heute geht er erst Nachmittags, etwa um drei, wieder unter. Deshalb passt das Lied auch, obwohl es gar keine Nacht ist.

1. Der Mond ist aufgegangen, / Die goldnen Sternlein prangen / Am Himmel hell und klar; / Der Wald steht schwarz und schweiget, / Und aus den Wiesen steiget / Der weiße Nebel wunderbar. (Payer/Mertens)

Das Lied kennt bis heute wohl jede und jeder. Selbst Kinder, die mit Pop und Rock aufwachsen, können die erste Strophe noch mitsingen. Kein Wunder: der Lyriker Matthias Claudius hat das Lied in ganz einfacher und doch wunderbar poetischer Sprache geschrieben. Dafür warf Claudius alle Ideale über Bord, die im 18. Jahrhundert für die Lyrik galten. Er ignorierte den hohen Ton seiner Zeit – und schuf so ein zeitloses Lied.

2. Wie ist die Welt so stille, / Und in der Dämmrung Hülle / So traulich und so hold! / Als eine stille Kammer, /Wo ihr des Tages Jammer /Verschlafen und vergessen sollt. (Herbert Grönemeyer)

 »Der Mond ist aufgegangen« fasziniert bis heute Musiker. Das zeigt die Aufnahme des Sängers Herbert Grönemeyer, der damit immer wieder seine Konzerte beschließt. Obwohl der Text durchaus befremdlich ist.„Dämmrung Hülle“ und „stille Kammer“ sind Begriffe einer anderen Zeit.

Worum es geht? Die beiden ersten Strophenlenken meinen Blick auf die Welt. Alles kommt zur Ruhe. Der Tag versandet. Ich kann mich im Angesicht des Mondes geborgen fühlen. Aber schon das Wort „Jammer“ macht deutlich: jeder Tag steckt voller Anforderungen, vielleicht aber auch voll Einsamkeit und Leid. Hier nimmt mich Matthias Claudius an die Hand. In der dritten Strophe deutet er mir diese Welt aus:

3. Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen, / Und ist doch rund und schön! / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsre Augen sie nicht sehn. (Sarah Kaiser)

Mich rührt die Interpretation der Jazzsängerin Sarah Kaiser an. So wie sie singt, habe ich das Lied nie gesungen. Und genauso ist es ja mit der Welt überhaupt. In der Welt ist vieles zu entdecken, was ich auf den ersten Blick nicht sehe. Vieles klingt anders, als ich es kenne. Oft genug halte ich einen Ausschnitt der Wirklichkeit für das Ganze. Ich halte eine Art, das Lied zu singen, für die wahre. Und ich sehe nicht, was alles noch auf dieser Welt möglich ist und entdeckt werden kann. Claudius schließt an diesem Punkt Gott in sein Singen ein.

Er dichtet: 5. Gott, laß uns dein Heil schauen, / Auf nichts Vergänglichs trauen, / Nicht Eitelkeit uns freun! / Laß uns einfältig werden / Und vor dir hier auf Erden / Wie Kinder fromm und fröhlich sein! (Instrumental unterlegt von Dieter Falk) 

Unter der Hand wird aus dem Lied ein Gebet. Für Matthias Claudius ist klar: Gott kann helfen, weiter zu sehen. Dafür benutzt Matthias Claudius den alten Begriff »Heil«. Das lässt sich übersetzen. Mit Wörter wie ‚Glück‘ oder ‚Gelingen‘. Dass, so bittet Claudius, sollen wir sehen können. Angesichts des Mondes. Wie das geht? Das verrät mir der Dichter nicht. Aber er erinnert mich daran, wie wichtig es ist, mehr und weiter zu sehen, als nur bis zum halben Mond. Als nur in meiner Welt. Und mehr zu trauen, als nur dem ersten Augenschein. So wie Gott manchmal erst auf den zweiten Blick erfahren werden kann.

 Der Mond ist aufgegangen
Text: Matthias Claudius (1740-1815) 1779
Musik: Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) 1790

Satz: Engelbert Humperdinck (1854-1921)
Götz Payer, Klavier
Klaus Mertens, Gesang
aus CD: Aus meines Herzens Grunde . Die schönsten alten Kirchenlieder (CD 1; Track 3; 3:45)
Carus/SWR2, Carus 83.015 (keine LC)

 2

Herbert Grönemeyer
Aus DVD: Mensch live (DVD 1; Track 19; 3:55)
EMI Electrola 2003 

3

Bearbeitung: Andreas Gundlach
Aus CD: Sarah Kaiser, Geistesgegenwart (Track 13; 4:29)
Gerth Medien 2007, Asslar, Nr. 939641 (keine LC) 

4

Bearbeiter: Dieter Falk
aus CD: Dieter Falk, Volkslieder (Track 3; 2:45)
Gerth Medien 2007, Asslar, Nr. 939364 (keine LC)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18519
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