Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Unter den vielen Geschichten, die im Neuen Testament von Jesus erzählt werden, gibt es eine, die ich besonders liebe. Es ist die vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Vater. Ich liebe sie wegen eines einzigen Augenblicks: dem Moment nämlich, als der Vater den Sohn von weitem heimkommen sieht. Da wird mein Herz ganz weich. Das berührt mich sehr. Der Vater erkennt seinen Sohn und hat Mitleid mit ihm. So lautet die Formulierung in der Bibel. Ich stelle mir vor, dass er vor Glück völlig außer Rand und Band gerät. Was für eine Freude, den so schmerzlich vermissten Sohn wieder zu sehen! Es ist das Schönste, was ihm passieren kann. Und seine Reaktion zeigt das dann auch sofort: Er rennt ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. So eine Erfahrung wünsche ich jedem. Ich wünsche sie mir selbst, und ich will anderen auch so eine Erfahrung schenken. Obwohl ich ja selbst keine Kinder habe, will ich gern wie ein Vater für andere sein. 

Die Tragweite dessen, was da geschieht, kapiert man allerdings erst, wenn man die Vorgeschichte kennt und mit einkalkuliert. Erst das, was vorher passiert ist, macht das Ganze realistisch und tauglich für unseren Alltag. Der Sohn hatte nämlich dem Vater und seiner ganzen Familie die kalte Schulter gezeigt. Von einem Tag auf den anderen zieht er sich aus der Verantwortung, verlangt sein Erbe und stolziert von dannen. Er will jetzt sein Leben genießen. Chillen, wie man neudeutsch sagt. Das kann man schon als rücksichtslos bezeichnen, egoistisch in hohem Maße. Der Vater muss sich schrecklich geärgert haben, später dann enttäuscht und schließlich traurig gewesen sein. Es wäre verständlich, wenn er von diesem Sohn nichts mehr wissen will, zumindest aber eine angemessene Entschuldigung erwarten würde. Aber dieser Vater rechnet nicht. Überhaupt nicht. Da gibt es kein Kalkül. Als es drauf ankommt und er den Sohn vor Augen hat - und das ist für mich der magische Moment des Ganzen - , gibt es bei ihm nur eines: offene Arme. Und die kann es bloß geben, weil er die Türe seines Herzens nie ganz zugemacht hatte für seinen verlorenen Sohn. Wenn das viele von uns so hinbekommen würden wie dieser Vater, das würde mehr von Gott in die Welt bringen als all unser Reden von ihm.

 

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