Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wir Menschen haben noch nie so viel über uns gewusst wie heute. Aber all unsere Erkenntnisse haben uns auch verunsichert. Früher haben sich die Menschen als Krone der Schöpfung verstanden. Von diesem überlieferten Selbstverständnis haben die modernen Wissenschaften Zug um Zug den Schleier weggezogen.

Im 16. und 17. Jh. haben Johannes Kepler und Galileo Galilei entdeckt, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Das hatte einen wahren Schock ausgelöst. Und es hat lange gebraucht, bis die Menschen und mit ihnen die Kirche eingesehen haben: Wir befinden uns in einem versprengten Winkel des Weltalls.

Im 19. Jh. folgte der nächste Schock. Charles Darwin hatte die Evolutionstheorie begründet. Sie besagt, dass sich der Mensch in einem langen und komplizierten Prozess aus dem Tierreich entwickelt hat. Manche wollen bis heute nicht akzeptieren: Biologisch gesehen nimmt der Mensch keine Sonderstellung ein.

Schließlich hat zu Beginn des 20. Jh. Sigmund Freud mit seiner Tiefenpsychologie unser Bild von uns noch einmal gründlich erschüttert. Er hat aufgezeigt, dass wir auch bei uns selber nicht einfach „Herr und Frau im eigenen Hause“ sind. Uns bestimmen und steuern auch unbewusste Kräfte. Wir mussten uns wieder mal fragen: Wie frei und wie verantwortlich sind wir in dem, was wir tun und lassen?

Wir wissen heute viel mehr über uns als frühere Generationen. Doch wir wissen heute nicht mehr als früher über den Sinn unseres Lebens, über den Sinn von Liebe und Leid, von Krankheit und Tod. Wir wissen es nicht, wir sind verunsichert. 

So ist der Mensch heute in der Regel nicht der kraftstrotzende, unbändige Zeitgenosse, den es auf den rechten Weg zu bringen gilt. Die tatsächliche Befindlichkeit vieler Menschen ist, dass sie an sich selber zweifeln, an sich selber leiden.

Wenn sie etwas von der Kirche erwarten – dann: dass sie bei den Menschen ist. Dass sie ein offenes Ohr für ihre Fragen hat und mehr Verständnis für menschliches Scheitern zeigt. Dass das Wort in moralischen Fragen der barmherzige Seelsorger hat und nicht die Glaubenshüter und Kirchenrechtler. 

Wenn die Menschen etwas von der Kirche erwarten - dann gewiss keine dogmatischen, asketischen und moralischen Appelle, dafür jedoch Therapie und Heilung im Geiste Jesu. Das Christentum ist ganz nahe bei seinem Herrn und Meister Jesus – wenn es wieder deutlicher eine therapeutische Religion wird. Und wenn es so eine helfende und heilende Gottesbegegnung möglich macht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18214
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