Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Da leg ich solange den Finger in die Wunde, bis die Sache in Ordnung kommt. Sehr entschlossen klang das. Ich lege so lange den Finger in die Wunde, bis das geklärt ist.
Ich kann mir denken, was die Frau gemeint hat: Sie will immer und immer wieder daran erinnern, was sie verkehrt findet – mit dem Finger darauf zeigen sozusagen, immer wieder: bis die anderen das in Ordnung bringen, was nicht stimmt.
Manchmal mag das nötig sein, Unrecht und Ungerechtigkeit kann man nicht auf sich beruhen lassen.
Aber oft ist es vor allem nötig, dass eine Beziehung wieder in Ordnung kommt. Dann darf man nicht „den Finger in die Wunde legen“. Denn das tut weh. Und meine Erfahrung sagt: davon wird nichts besser. Die Wunde wird schlimmer.
Den Finger in die Wunde legen: Den anderen immer wieder daran erinnern, was er falsch gemacht hat. „Du hast schon immer… du konntest noch nie… du hast damals schon“ Das sind Sätze, da kann nichts heilen – da tun Wunden nur noch mehr weh. Solche Sätze hört keiner gern. Im Gegenteil – da wehre ich mich. Da werde ich widerspenstig und tue, als ob ich nichts höre.
„Den Finger in die Wunde legen“ – das ist eine Redensart aus der Bibel. Gesagt hat das Thomas, den man den ungläubigen genannt hat. Aber dort ist etwas anderes gemeint als die Wunde nicht heilen lassen. „Wenn ich nicht die Finger in seine Wunden lege, dann kann ich nicht glauben, dass Jesus auferstanden ist und lebt.“ (Joh 20,) Das hat Thomas gesagt, weil er Erfahrungen machen wollte. Er wollte selber in Erfahrung bringen, wo der andere seine Verletzungen hat. Er wollte sehen und hören, wo es ihm wehgetan hat, spüren, was mit ihm los ist. Die Wahrheit herausfinden. Nicht immer wieder… sondern einmal. Ein für alle mal.
Das ist ja wirklich etwas anderes als „den Finger so lange in die Wunde legen“ bis etwas in Ordnung kommt. Thomas wollte nicht bloß sehen, sondern begreifen, was dem anderen fehlt. Das kann in der Tat helfen, damit etwas in Ordnung kommt. Da muss man oft erst begreifen, was ihm zu schaffen macht. Dann kann man auch verstehen, warum er sich so verhalten hat, wie er es getan hat. Warum er vielleicht nicht anders konnte.
Wenn ich das begreife, was dem anderen oder den anderen weh tut: Dann kann ich tun, was die Wunde heilen lässt. Sie wenigstens in Ruhe lassen. Oder sogar eine Salbe auftragen. Ein verständnisvolles Wort sagen. Ein Pflaster darauf kleben, damit es nicht mehr so weh tut und die Verletzung heilen kann. Den anderen schonen. Oft weiß er ja selber, was schief gegangen ist.
Wenn eine Wunde heilt, hat man wieder mehr Spielraum. Dann kann man sich wieder bewegen. Vielleicht sogar etwas ändern. Ich glaube, dann kommt leichter in Ordnung, was weh tut.

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