Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Nach zwei, drei Tagen bist Du ganz leer. Da zählt nur noch, dass es nicht regnet, ob das Bett in der Herberge gut ist und die netten Menschen, mit denen du ein paar Kilometer läufst. Dann ist der Alltag ganz weit weg. Dann merkst du, wie unwichtig das meiste ist, was dir Stress gemacht hat.
Ganz leer. Der Alltag weit weg. So hat mir eine Kollegin vom Pilgern erzählt. Kein Wunder, dass das so viele probieren. Die Kollegin sagt, sie freut sich schon auf die nächste Etappe im nächsten Urlaub.
Meine Erfahrung ist allerdings: Nach ein paar Tagen zu Hause sind Kopf und Herz wieder genauso voll mit Alltagssorgen wie vorher. Leere ab und zu allein hilft nicht, finde ich. Mir jedenfalls nicht. Wenn der Alltag weit weg ist und seine Anforderungen, dann stoße ich tief in mir erst recht auf mich und auf das, was mich unruhig macht.
Ich habe gemerkt: Was mir da raushilft, ist, wenn ich die Leere fülle. Für mich sind da gute Worte ganz wichtig. Manche würden vielleicht sagen: Ich meditiere. Ich sage lieber: Ich lerne auswendig. Gedichte zum Beispiel. Oder Lieder. „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Oder Hermann Hesse „Stufen“. Manchmal Verse aus den Psalmen der Bibel. Manchmal auch einen Popsong. „You have got a friend“ zum Beispiel, von Carole King. Ich schreibe den Text auf einen Zettel. Und den nehme ich mit. Beim Spazierengehen oder beim Bahn fahren manchmal auch, wenn ich nicht schlafen kann. Und wenn ich merke, wie meine Gedanken immer im Kreis herum gehen und mich unruhig machen, dann versuche ich, mir den Text zu holen, gegen die Unruhe. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, schaue ich auf den Zettel. Bis ich es auswendig kann, dauert es lange. Für die „Stufen“ von Hermann Hesse habe ich bestimmt ein viertel Jahr gebraucht. Sie glauben gar nicht, wie vieles einem auffällt an so einem Gedicht, bis man es auswendig kann. Und wenn man es dann kann – dann hat man Worte in sich parat. Die fallen einem immer wieder ein. Die Engländer sagen, was man auswendig kennt, das kann man „by heart“. Das hat man im Herzen.
Und dann ist es nicht mehr leer. Sondern voll mit guten Worten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ Das kommt mir in den Sinn, wenn ich etwas Neues probieren soll. Oder aus einem Kirchenlied: „Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit“. Inzwischen hat sich in meinem Inneren ein Schatz angesammelt. Der hilft mir, damit mich der Alltag nicht überrollt. Fall Sie jetzt im Sommer vorhaben zu Wandern oder zu Pilgern: Versuchen Sie es doch mal.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17904
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