Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ein Urteil lässt sich widerlegen, ein Vorurteil aber nie.“ Ein guter Spruch von Marie von Ebner-Eschenbach. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sich wirklich jedes Urteil widerlegen lässt - sei es vor Gericht oder zwischen Menschen. Wo sie aber recht hat, die Dichterin, ist bei den Vorurteilen. Weil sie meistens so im Stillen vor sich hingesagt werden. Und niemand beweisen kann, dass es tatsächlich stimmt was ich so von Menschen halte, die ich nicht wirklich kenne: „Typisch“, ist ein klassisches Vorteils-Wort. Oder es fallen Sätze wie „die sind doch alle faul“ oder „die wollen mich doch eh nur abzocken“. Diese Art Vorurteile gibt es zur Genüge und zu oft. Und sie sind weiß Gott schwer zu widerlegen. Weil sie eben nicht zu greifen sind oder weil die, die sie haben, sich meistens auf keine Debatte einlassen. Ich habe eine Geschichte entdeckt die es aber doch schafft. Auf ganz zauberhafte Weise widerlegt sie ein gängiges Vorurteil. Sie heißt der „Teller Suppe“, ist von Manfred Zacher und geht so:

„Eine ältere Dame kauft sich einen Teller Suppe. Behutsam trägt sie die dampfende Köstlichkeit an einen Stehtisch und hängt ihre Handtasche darunter. Dann geht sie noch einmal zur Theke. Sie hat den Löffel vergessen. Als sie zum Tisch zurückkehrt, steht dort ein Afrikaner – schwarz, kraushaar, bunt wie ein Paradiesvogel – und löffelt die Suppe.Zuerst schaut die Frau ganz verduzt. Dann aber besinnt sie sich, lächelt den Mann an und beginnt ihren Löffel zu dem seinen in den Teller zu tauchen. Sie essen gemeinsam. Nach der Mahlzeit – unterhalten können sie sich kaum – spendiert der junge Mann ihr noch einen Kaffee und verabschiedet sich höflich. Als die Frau gehen will und unter den Tisch zur Handtasche greift, findet sie nichts. Alles weg.

Also doch, ein gemeiner, hinterhältiger Spitzbube! Enttäuscht, mit rotem Gesicht schaut sie sich um. Er ist spurlos verschwunden. Aber am Nachbartisch erblickt sie einen Teller Suppe, inzwischen ist er kalt geworden. Darunter hängt ihre Handtasche.“

 Quelle: GLAUBwürdig – Gedanken . Geschichten . Gebete   Hrsg. Von Waldemar Wolf, im Auftrag der AMD   (Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste im Diakonischen Werk der EKD)  Ulm, 2006, S. 30

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17884
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