Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Serienmorde, Kindesmissbrauch, Menschen zerstückelt. Eine Gerichtsgutachterin hat die Aufgabe herauszufinden, was Menschen zu solch furchtbaren Handlungen bewegt hat. Stundenlang spricht sie mit Menschen, die unvorstellbare und grausame Taten vollbracht haben. Und dabei blickt sie sicherlich oft in Abgründe.
Und nun sagt so eine Gerichtsgutachterin: „In all den Jahren bin ich nie einem Monster begegnet. Meistens sind es erstaunlich normale Menschen, die da vor mir gesessen haben, und dann ist etwas passiert, dass dazu geführt hat, dass diese ganz normalen Menschen grauenvolle Dinge tun.“
Dieses Interview, das ich in einer Zeitung gelesen habe, hat mich nachdenklich gemacht. Ich musste an einige Zeitungsnotizen aus den letzten Monaten oder Jahren denken: An das Familiendrama, bei dem eine Mutter erst ihre Kinder und dann sich selbst getötet hat. An den jungen Mann, der plötzlich ausgerastet ist und scheinbar wahllos einige seiner Mitschüler umgebracht hat. An Neugeborene, die einfach ausgesetzt wurden. An Morde aus Geldgier oder Eifersucht. An die Selbstmordattentate im Nahen Osten.
Die Freunde und Verwandte dieser Täter würden wahrscheinlich dasselbe sagen wie die Gerichtsgutachterin: Er oder sie war kein Monster, er oder sie war vorher ein ganz normaler Mensch – ein Mensch wie Sie oder wie ich!
Aber wenn das stimmt, dann frage ich mich: Zu welch furchtbaren Taten wäre ich wohl in der Lage, wenn ich in die entsprechende Situation geriete?
In der Bibel steht das Vaterunser. Das Gebet, das Jesus seinen Jüngern geschenkt hat. Eine Zeile dieses bekanntesten christlichen Gebetes lautet: „Und führe mich nicht in Versuchung“.
Bisher konnte ich mit diesem Satz nur wenig anfangen. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass ich in meinem Leben ständig Versuchungen ausgesetzt bin. Aber durch die Worte der Gerichtsgutachterin ist mir der Sinn dieser Zeile klarer geworden.
Ich glaube, Jesus hat seine Menschen gut gekannt. Und deshalb diese Bitte eingefügt: Gott bewahre mich vor solchen Situationen, in denen ich Dinge tun oder sagen könnte, die ich mir selbst nie zugetraut hätte. Denn auch ich bin halt nicht unfehlbar oder perfekt, so gern ich das auch sein würde. Gott weiß das und er steht trotzdem zu mir – selbst wenn ich irgendwann einmal tatsächlich einer Versuchung erliege.
„Und führe uns nicht in Versuchung“. Ich glaube, ich werde diese Zeilen im Vaterunser jetzt viel bewusster beten. Und ich werde vorsichtiger sein, wenn ich über andere Menschen mein Urteil fälle.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17818
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