Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Fast ein Gebet“ heißt ein Gedicht, das der Dichter Reiner Kunze geschrieben hat. Es geht so:

Wir haben ein Dach
und Brot im Fach
und Wasser im Haus,
da hält man’s aus.

Und wir haben es warm
Und haben ein Bett.
O Gott, daß doch jeder
Das alles hätt’!

Das kenne ich auch. Solche Momente, in denen mir plötzlich bewusst wird, wie viel das ist: Ein Dach über dem Kopf, eine schöne Wohnung,  immer Essen auf dem Tisch und Getränke, nicht nur Wasser, sondern auch Kaffee oder Wein und ein gemütliches Bett für den ungestörten Schlaf
Das haben längst nicht alle. Aber ich und Sie, wir haben das.
Ich erschrecke manchmal darüber, wie selbstverständlich ich das alles nehme.
Und zugleich bin ich auch dankbar,  dass alles da ist, was ich brauche. Auch für die Menschen, die mir wichtig sind.
Aber ich muss nur kurz die Nachrichten anschalten, um zu wissen, wie bevorzugt ich leben kann und was für ein Glück das ist. Unverdientes Glück.
Ich finde, in so einem Moment das «Danke» auch nur zu fühlen, das  ist schon ein Gebet, auch ohne viele Worte.
Der Dichter Reiner Kunze nimmt es da genauer. Er nennt sein Gedicht: „fast“ ein Gebet. Er besteht auf seinem „fast“. Er schreibt es sogar in die Überschrift.
Vielleicht nennt er sein Gedicht so,  weil er spürt, dass Dankbarkeit leicht auch bequem machen kann.  Reiner Kunze aber begnügt sich gerade nicht damit, selbstgenügsam und zufrieden ein Loblied zu singen.
In dem Moment, in dem er dankbar feststellt, was er alles hat, merkt er ja, was anderen Menschen alles fehlt. Er sieht die Kluft  zwischen denen, die alles haben und denen, die zu wenig haben.
Er merkt, dass das ist nicht gerecht ist.
„O Gott, dass doch jeder/das alles hätt’», schreibt er.
Dass nur Gott helfen soll, wird  nicht genügen. Gott hilft, indem wir helfen. Nicht anders.
Meine Erfahrung ist, am besten kann ich helfen, wenn ich einmal wieder aufgewacht bin aus der Selbstverständlchkeit, alles zu haben, was ich zum Leben brauche.
Und dann fange ich irgendwo ganz klein an. Vielleicht verdopple oder verdreifache ich den Geldbetrag, den ich normalerweise sonntags im Gottesdienst in die Kollekte gebe. Oder ich schenke jemandem etwas, weil ich weiß, er braucht es. Und ich versuche, die Partei zu wählen, die es auch wichtig findet, dass alle das haben:

… ein Dach
und Brot im Fach
und Wasser im Haus,
da hält man’s aus.

Und wir haben es warm
Und haben ein Bett.
O Gott, daß doch jeder
Das alles hätt’!

(in :Reiner Kunze, Gedichte, Frankfurt/M 2001, 320):

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17724
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