Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Vor kurzem habe ich einen Vater mit seiner etwa 2jährigen Tochter beobachtet.
Er war über und über mit Tätowierungen bedeckt, hatte eine große, hässliche Narbe am rechten, muskulösen Oberarm und sah aus als würde er sein Geld als Rausschmeißer in einer Bar verdienen.
Vielleicht macht er das auch.
Doch was ich in seinem Gesicht gesehen habe, als er mit seiner Tochter am Brunnen saß, das war etwas ganz anderes: Glück, Liebe, so etwas wie Verzückung bei jedem Juchzer, wenn sie mit ihren Händchen mit dem Wasser des Brunnens nach ihm gespritzt hat.
„Mit solcher Liebe muss Gott wohl auf uns Menschen schauen“ habe ich gedacht. Einen Moment habe ich überlegt, ob ich ihm das sagen soll, also diesem Mann.
Ich hätte ihm eigentlich gerne gesagt, dass seine Tochter gerade etwas mitbekommt von der Liebe Gottes. Bei dem Typen habe ich mich aber einfach nicht getraut.
Ich glaube, in jedem Menschen könnte man etwas vom Wesen Gottes ablesen, wenn man genau hinschaut. Das ist manchmal ein bisschen wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Manchmal ist da vielleicht nur ein Funken, manchmal nur ein einziger Zug an einem Menschen, der ansonsten eher schwierig ist.
Mir macht es immer mehr Freude bei anderen nach diesem Wesenszug zu suchen. Es lässt mich auch mit den schwierigen Menschen leichter umgehen. Es hilft mir auch denen Achtung zu zeigen, die bitter und manchmal auch bitterböse geworden sind. Irgendwo könnte noch etwas von einem Wesenszug Gottes zu sehen sein: Liebe, Güte, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Treue.
Das sind alles große Worte und die Gesten, die man zu sehen bekommt, sind oft so klein.
Die Schüssel Milch, die eine bittere, verhärmte 50jährige jeden Tag für die Katze hinstellt aus lauter Güte.
Der Mensch, der ständig beschäftigt ist, „Herr Oberwichtig“. Und dann erfahre ich, dass er seinen Vetter in einer Nacht- und Nebelaktion nach Hamburg gefahren hat, weil dessen Tochter einen Unfall hatte. Am nächsten Morgen ist er schon wieder auf seinem Chefsessel gesessen und war ja so wichtig. „Ich sehe was, was du nicht siehst“: Treue.
Und je mehr ich nach solchen Zeichen der Wesenszüge Gottes suche, desto mehr merke ich drei Dinge:
Erstens: Die Menschen sind besser als man oft glaubt.
Zweitens: Gott zeigt sich an viel mehr Stellen als man es für möglich hält.
Und Drittens: Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass irgendjemand auch schon mal an mir gemerkt hat, wie Gott ist.
So ein Gedanke kann mir den Tag versüßen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17621
weiterlesen...