Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Stellen Sie sich mal vor, Sie bekommen einen Brief in die Hand gedrückt. Darauf steht der Name einer beliebigen Person in einem beliebigen Ort in Europa, sonst nichts, nur ein Name. Sie kennen weder die Stadt noch den Empfänger noch sonst jemand, der irgendwelche Beziehungen dorthin hat. Trotzdem sollen Sie nun dafür sorgen, dass dieser Brief seinen Adressaten erreicht. Das Besondere: Sie dürfen die Adresse nicht recherchieren, Sie müssen vielmehr überlegen: Wer von all den Menschen, die ich kenne, ist vielleicht näher am Adressaten dieses Briefs dran als ich? Und dieser Person geben Sie ihn, und die macht es dann genauso, bis der Brief schließlich bei seinem Empfänger ankommt.

Ein solches Experiment hat tatsächlich mal einer gemacht. Der Sozialpsychologe Stanley Milgram wollte damit herausfinden, wie die Menschen weltweit miteinander vernetzt sind. Und das Jahrzehnte bevor es digitale Netzwerke wie Facebook gab.

Das Ergebnis hat ihn doppelt überrascht. Zum einen kamen erstaunlich viele dieser Briefe tatsächlich an. Noch verblüffender ist allerdings etwas anderes: Im Durchschnitt hat es nur etwa sechs Stationen gebraucht, um von irgendeinem beliebigen Menschen zu irgendeinem anderen zu kommen. Damals blieb das Experiment wissenschaftlich umstritten. Doch neuere Studien haben das Ergebnis bestätigt: Jeder kennt praktisch jeden, über gerade mal 6,6 Verbindungen.

Ich bin beeindruckt, wie man so was erforschen kann. Aber am meisten staune ich, dass das Ergebnis so eindeutig und so einfach ist. Und was schließe ich daraus? Erst mal, dass es stimmt, was man immer sagt: Die Welt ist wirklich ein Dorf. Das heißt dann aber auch: Wir sind alle irgendwie miteinander verbunden – es gibt überhaupt keine Fremden, die mich gar nichts angehen. Wir sind einander viel näher als wir denken. Auch wenn tausende Kilometer zwischen uns liegen, sind wir doch immer nur sechs Ecken voneinander entfernt.

Das christliche Verständnis vom Menschen sagt etwas Ähnliches: Wir sind nicht als Einzelwesen geschaffen, die weit voneinander entfernt sind und sich nicht berühren. Wir sind alle miteinander verbunden und füreinander verantwortlich. Und der bekannte Begriff der ‚Nächsten‘-Liebe bekommt auf diese Weise eine ganz neue Bedeutung, man kann auch sagen: sechs Ecken.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17393
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