SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

Passion. Ein Wort, in dem beides mitschwingt: das Leid und die Leidenschaft. Musikalisch kennen wir diese Verbindung aus den herben Klängen des andalusischen Flamencos, der Tristesse des  portugiesischen Fado oder der Melancholie des argentinischen Tangos. Auf berührende Weise drückt diese Musik ihr Leiden an der Welt und an der Liebe aus. Mit einer Leidenschaft, die das Leid mildert und erträglich werden lässt.
In ganz eigener Weise erklingt die Verbindung von Leid und Leidenschaft auch in dem Passionslied „O Haupt, voll Blut und Wunden“.
Die ursprüngliche Melodie ist sehr alt, seinerzeit ein populäres Liebeslied.  Der Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt, schuf daraus die Verse des bekanntesten deutschsprachigen Passionsliedes.

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zum Spott gebunden
Mit einer Dornenkron’,
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr’ und Zier,
Jetzt aber hoch schimpfieret:
Gegrüßet sei’st du mir!

In der ersten Strophe sehen wir Jesus am Kreuz . An seinem Gesicht ist sein Leiden abzulesen. Ein Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn. Wir aber sind Zeugen und Beobachter dieses Vorgangs.
Dann aber – wenige Strophen später – voll zieht ein Rollenwechsel. Wir bleiben nicht länger Zuschauer. Sondern rücken selbst ins Bild. „Ich will hier bei dir stehen“, singt der Chor. Und drückt damit aus: Wir wollen nicht nur Zuschauer dieses Geschehens sein. Sondern stellen uns auf die Seite des Leidenden. Gerade auch in der äußersten Zuspitzung des Leidens. Im Tod.

Ich will hier bei dir stehen,
Verachte mich doch nicht!
Von dir will ich nicht gehen,
Wenn dir dein Herze bricht;
Wenn dein Haupt wird erblassen
Im letzten Todesstoß,
Alsdann will ich dich fassen
In meinen Arm und Schoß.

So wird die Passion zur Compassion, zur compassion. Aus Leiden wird Mitleiden.  Solidarität.
Kein Wunder, dass der alte Choral Jahrhunderte später Eingang in die Folkmusik findet. Und zu einem Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wird. Peter, Paul und Mary haben ihn gesungen.  Mit einem neuen Text, in dem es heißt:
„Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Die Ängste meines Bruders sind auch meine Ängste. Und seine Tränen sind auch meine Tränen – egal ob gelb, weiß oder braun.“
Ein alter Choral, neu gesungen, weil in ihm die Leidenschaft für ein mitmenschliches Leben brennt.

Musik 1
Aus: Matthäus-Passion BWV 244, Die kompletten Werke, copyright 2000 – Hänssler Verlag, MM 4082-2,
CD 2, Track 25, 0’31 min;Interpreten: Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart,
LC 6047

Musik 2
Aus: Matthäus-Passion BWV 244, Die kompletten Werke, copyright 2000 – Hänssler Verlag, MM4081-2; CD 1, Track 17, 1’15 minj;Interpreten: Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, LC 6047

Musik 3
Peter, Paul and Mary, “Because all men are brothers”; track 6 aus CD: See what tomorrow brings, Warner Brothers 1965. 0’44 min, LC 0392

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17369
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