Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

„Ich möchte morgens im Radio etwas hören, was mir beim Leben und beim Sterben hilft. Dazu kommt so selten was im Geistlichen Wort“, hat mir eine Frau am Telefon gesagt. 85 Jahre alt sei sie. Ich habe überlegt, ob ich ihr sagen soll, dass das Geistliche Wort seit 15 Jahren „Anstöße“ heißt oder „Morgengedanken“.
Aber die Frau hat längst weiter geredet: „Ich weiß, ich bin schon alt“, hat sie gesagt. „Aber die Jungen haben doch auch Angst vor dem Tod. Und vor dem Leben vielleicht mehr als ich. Denen würde das auch gut tun“.
Da hat sie mich überzeugt. Aber was soll ich nun sagen zur Angst vor dem Leben und vor dem Sterben, morgens um 6 oder um 7, wenn alle geschäftig sind und unterwegs?
Mir ist eines meiner Lieblingslieder eingefallen. Das gibt mir Halt, wenn ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Es ist ein Morgenlied und die erste Strophe geht so: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad‘ und große Treu‘. Sie hat kein End‘ den langen Tag. Drauf jeder sich verlassen mag.“ (EG 440,1)
Mir macht dieses Lied Mut zum Leben. Denn es sagt mir mehr als „Heute ist ein neuer Tag“. Das stimmt auch und manchmal hilft das schon ein Stück weiter. Heute  ist ein neuer Tag – da gibt es neue Begegnungen und neue Chancen und vielleicht lösen sich die Probleme, die mir gestern  noch zu schaffen gemacht haben. Aber manchmal sind all die Sorgen ja auch einfach wieder da. Oder es kommen neue dazu. Dieses 500 Jahre alte Morgenlied sagt mehr. Heute morgen ist auch Gottes Gnade wieder neu. Gott fängt  neu mit mir an. Ich muss nicht mit mir herumtragen, was ich gestern  falsch gemacht habe. Er legt mich nicht darauf fest. Ich muss es auch nicht verstecken und nicht vertuschen. Ich kann jetzt neu anfangen. Aufrecht und selbstbewusst. In Ordnung bringen, was war. Ich kann es anders machen und hoffentlich besser. Und Gott wird mich nicht im Stich lassen. Seine Treue ist jeden Morgen wieder neu.
Das hilft mir zum Leben. Und wenn ich sterben muss? Ich glaube, dass dann wieder ein Morgen kommt. In einem anderen Leben. Und auch dann wird Gottes Gnade wieder neu für mich da sein. Ich stelle mir vor: Es wird sicher noch mal zur Sprache kommen, was gewesen ist. Auch das, was ich nicht so gern hören will. Vielleicht werde ich mich für manches schämen müssen. Aber Gott wird die Tränen abwischen. Meine. Und die von den Menschen, denen ich Unrecht getan habe. Auch an diesem neuen Morgen ist seine Gnade neu. Und seine Treue auch. Damit kann ich gut leben. Und hoffentlich getrost sterben.
Der alten Dame, die jetzt vielleicht zuhört, wünsche ich das auch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17137
weiterlesen...