Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Siebzig Prozent aller Menschen in Deutschland haben zu viel Gewicht – allerdings nur auf der Waage. Aber wie sieht es innerlich aus? Habe ich da auch genug Gewicht? Oder bin ich da eher untergewichtig? Hat das, was ich sage und tue, Gewicht bei anderen – in der Familie, in meinem Freundeskreis, auf der Arbeit?
Eine Ursache von psychischen Störungen wie zum Beispiel Burnout ist, dass Menschen den Eindruck haben, dass sie zu wenig Gewicht haben. Wenn ich denke, dass meine Arbeit keinen Wert hat oder dass ich einfach austauschbar bin oder andere mich leicht übersehen, dann ist das kein guter Zustand.
Dann sollte ich dringend schwerer werden. Zum Beispiel, indem ich anfange, zu sagen, wenn mich etwas stört. Wenn die Bäckerin mir das dunkle, angebrannte Brötchen einpacken will oder wenn im Büro meine Urlaubswünsche fast nie berücksichtigt werden. „Beschweren“ nennt man das interessanterweise. Denn genau das passiert, wenn sich jemand beschwert: Er macht sich schwer. Er verleiht sich - seinen Bedürfnissen und Interessen - Gewicht.
Sich beschweren kann allerdings auch anstrengend sein. Das hat das seelische Zunehmen mit dem körperlichen Abnehmen gemeinsam. So wie es bequemer ist mit Chips auf dem Sofa zu liegen, statt joggen zu gehen, so ist es auch bequemer, nur zu nicken, anstatt seine eigene Meinung zu sagen. Und es ist leichter, wenn ich den anderen die Entscheidungen überlasse als selbst etwas zu entscheiden. Trotzdem lohnt sich die Anstrengung, denke ich.
Gewicht bekommt meine Seele auch durch andere Menschen. Wenn ich merke, dass ich für jemanden wichtig bin, dann fühle ich mich auch selbst wichtig. Ein Psychologe hat einmal in einem Radio-Interview gesagt: „Menschen, die mich annehmen so wie ich bin […] das ist Gold wert und stellt einen ganz stark auf fürs Leben“. (Holger Schlageter, Psychologe, SWR Leute, 19.12.2011). Durch Menschen, für die ich wichtig bin, bekomme ich Gewicht. So leicht kann mich dann nichts mehr umwerfen.
In der Advent- und Weihnachtszeit mit all den Süßigkeiten und dem guten Essen nehmen die Kilos in der Regel zu. Aber ich denke, Weihnachten ist auch eine gute Gelegenheit, sich ein paar Kilos für die Seele drauf zu schaffen: Ich kann vielleicht mehr Zeit als sonst mit Menschen verbringen, denen ich etwas wert bin. Und ich kann auf die Weihnachtsbotschaft hören: Gott wird Mensch, weil er allen Menschen - und ganz besonders mir - nahe sein möchte. So viel bin ich ihm wert.
Auch das gibt meiner Seele Gewicht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16619
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