Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Für die katholische Kirche in Deutschland ist heute ein besonderer Tag. Heute wird offiziell zum letzten Mal das Gesangbuch Gotteslob verwendet, das seit 1975 im Gebrauch war. Zugegeben, es gibt wichtigere und interessantere Ereignisse, aber mir bedeutet dieser Abschied etwas. Denn in all den Jahren ist mir das Gesangbuch sehr vertraut geworden, viele Lieder und Gebete erkenne ich schon an ihrer Nummer.

Vielleicht ist es ja ein bisschen sentimental: In dieser Woche habe ich mich in eine Kirche gesetzt und eines dieser Bücher in die Hand genommen, irgendeines von den vielen, die da ausliegen. Es war ursprünglich mal rot, mittlerweile ist es schmutzig, fleckig, beschädigt, am Rücken mit Klebestreifen geflickt, damit es überhaupt noch zusammenhält.

Da saß ich also, allein in der stillen Kirche und habe noch einmal darin geblättert, in diesem Buch, das so lange von Hand zu Hand gegangen war, in jedem Gottesdienst in eine andere. Ich sah all die Eselsohren, die abgegriffenen Bändchen, die von kleinen und großen Händen schon hundertmal zu Zöpfchen gedreht und dadurch dünn und ein bisschen zu kurz geworden waren. Auf manchen Seiten sind Wachstropfen, andere haben Wasserflecken.

Ich betrachte das Buch und sehe zugleich die Menschen vor mir, die es in den Händen gehalten haben. Was hat es ihnen bedeutet, am Sonntag in die Kirche zu kommen? Was haben sie gesucht und hier gefunden – oder auch nicht? Welche Hoffnungen, welche schönen Erlebnisse haben sie mitgebracht, für die sie danken wollten? Und welche Ängste, welche Sorgen, welche Trauer konnten sie besser tragen, wenn sie mit anderen gebetet, gesungen, gefeiert haben? Wenn sie Gott gelobt haben, unabhängig, davon, wie ihnen gerade zumute war? Und was waren wohl ihre Lieblingslieder? Und bei welchen Gebeten konnten sie Kraft tanken?

Ich finde, diese alten, diese in Ehren abgewetzten und verschlissenen Gesangbücher sind ein Schatz. Denn sie sind stumme Zeugen, Glaubenszeugen. Und so wie die Zeugen aus Fleisch und Blut haben auch die aus Papier ihre Zeit und werden irgendwann von anderen abgelöst. Das muss so sein, denn jede Zeit hat ihr ganz eigenes Gesicht. Das Papier, auf dem die Lieder und Gebete gedruckt waren, wird demnächst Altpapier werden, aber das, was sie bewirkt haben, bleibt kostbar.

 

 

 

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