Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Mittlerweile bin ich auch so weit, dass ich die Zeitung von hinten aufschlage. Bei der Lokalzeitung sind die Todesanzeigen das erste, was ich überfliege.

„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“ Gleich drei Anzeigen begannen vor ein paar Tagen mit diesem Spruch. Er geht auf den römischen Philosophen Seneca zurück, und später hat ihn auch Immanuel Kant übernommen.Klar, die Menschen, mit denen ich verbunden bin, werde ich niemals vergessen, und solange ich an sie denke und von ihnen spreche, habe ich das Gefühl, sie seien noch irgendwie dabei. Und ich freue mich, wenn sich auch andere noch an sie erinnern. Ich freue mich, wenn jemand sagt: ich habe Ihre Mutter gekannt. Auch wenn meine Mutter schon lange nicht mehr lebt, ist sie so noch gegenwärtig.

Aber dann denke ich: irgendwann wird sich niemand mehr erinnern, auch ich nicht, weil ich dann selbst schon gestorben bin. Und was ist dann? Fallen die Toten dann ins Leere, wie wenn es sie nie gegeben hätte? Ist die Erinnerung der Menschen nur ein kleiner Aufschub, eine Verzögerung, so wie wenn ein Streichholz noch ein paar Sekunden nachglüht?

Ich erinnere mich oft und gern an die Verstorbenen, aber wirklich trösten kann mich der schöne Spruch der Philosophen nicht. Andern mag es da anders gehen, aber ich muss einfach weiterdenken über die Grenze meiner Erinnerung hinaus.

Wie gut, dass mein Glaube mitgeht, und mich an dieser Grenze  lässt. „Christen gedenken der Toten, weil sie leben, nicht damit sie leben.“ Diesen markanten Satz haben die katholischen deutschen Bischöfe im Jahr 2005 geschrieben. Ja, daran glaube ich. Ich glaube, dass die Toten bei Gott leben, und dass ihr Leben nicht davon abhängt, ob von uns noch jemand an sie denkt. Natürlich habe ich diesen Glauben nicht einfach so, wie ich meine Brille habe, die ich nur aufsetzen muss, aber bisher ist er mir noch nie ganz abhanden gekommen, auch wenn er manchmal mehr Sehnsucht als Glaube ist.

Wenn ich so an die Verstorbenen denke, dann entlastet mich das auch. Denn es hängt nicht alles von mir ab. Ich muss die Toten mit meiner Erinnerung nicht aus der Bedeutungslosigkeit retten, das könnte ich sowieso nicht. Ich kann einfach so an sie denken – weil sie leben, nicht damit sie leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16486
weiterlesen...