Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wer vom Alltag spricht, tut das oft leicht negativ. „Der graue Alltag" ist so eine Redensweise. Immer dasselbe, von morgens bis abends, der gleiche Rhythmus, die gleichen Wege, die gleichen Menschen, die gleiche Arbeit. Bei so viel Eintönigkeit wächst das Gefühl: Ich muss da raus; ich muss meinem Alltag mal entfliehen. 

Der Evangelist Lukas greift in einer Geschichte beide Erfahrungen auf: den Alltag und wie man ihm entkommt (Lukas-Evangelium 15,11-32). Es geht um zwei Brüder: der jüngere hat den Alltag satt, er will da raus, und so geht er zu seinem Vater, bittet ihn, ihm seinen Erbteil auszuzahlen und macht sich auf und davon. Er kann nun das Leben in vollen Zügen genießen. Doch irgendwann ist das Vermögen dahin, und es beginnen harte Zeiten für ihn. Und weil er sieht, dass es selbst den Tagelöhnern seines Vaters besser ergeht als ihm jetzt, ringt er sich durch, nach Hause zurückzukehren, wohl wissend, dass das kein einfacher Gang sein wird. Doch der Vater reagiert anders als erwartet: Er ist voller Freude und er bereitet ihm deshalb ein Fest: Freunde werden eingeladen, das Mastkalb wird geschlachtet, es gibt Musik und Tanz.

 Nur einer kann sich nicht mitfreuen: sein älterer Bruder. Enttäuscht, ja wütend stellt er seinen Vater zur Rede. Wann hat man ihm schon einmal ein Fest gegeben? Wann durfte er sich mal Freunde einladen? Nicht einmal einen Ziegenbock sei er wert gewesen! Das hat er nun von all seiner Treue! Und nun kommt das Überraschende: Der Vater erinnert ihn an den Wert des Alltags: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein." 

Plötzlich ist es nicht mehr die Geschichte des jüngeren Sohnes, genauso wenig wie es die Geschichte des älteren ist; es ist eine Glaubensgeschichte geworden. Sie erzählt vom Alltag meiner Gottesbeziehung. Für den jüngeren Sohn war dieser Alltag „grau" geworden, nichtssagend. Dem älteren dagegen fehlt die Erfahrung ohne diese liebevolle Geborgenheit zu leben. So schlecht ist der Abstand zum Alltag also nicht. Ich muss ihm ja nicht entfliehen, aber ich kann ihn mir schaffen, damit ich seinen Wert neu sehen kann: „Du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein" (Lukas-Evangelium 15,31).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16221
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