Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Störungen sind normalerweise ärgerlich, besonders wenn der Eindruck entsteht, sie sind bewusst herbeigeführt worden. In unserer Kirchengemeinde in Stuttgart taucht immer wieder einmal mitten in unseren Versammlungen eine Frau auf, die um einen Kaffee und etwas zu essen bittet. Dass wir dadurch unterbrochen werden und auch nicht weitermachen können, das stört die Frau nicht; in aller Ruhe genießt sie das Essen und Trinken und hält dabei die Leute auf Trab. Es bleibt in der Regel auch nicht bei der einen Tasse und dem einen Brot. Kein Wunder, dass sich unter den Versammelten Unruhe breitmacht. Die einen sagen: Sie kann doch nicht einfach in eine Versammlung hineinplatzen und erwarten, dass dann alles nach ihrer Pfeife tanzt! Die anderen werben für Gelassenheit und sie verweisen darauf, dass man von einer christlichen Gemeinde Nächstenliebe erwarten kann. 

Ich muss gestehen: Auch mich haben diese Auftritte schon mächtig geärgert; ich hätte sie mir diskreter gewünscht. Nachdenklich aber hat mich dann eine Geschichte aus der Bibel gemacht, in der genau das passiert (vgl. Lukas-Evangelium 7,36-50): Mitten in ein Abendessen hinein, das ein Pharisäer für Jesus gibt, platzt eine Frau. Sie geht gezielt auf Jesus zu, sie weint, sodass Tränen auf seine Füße fallen. Mit ihrem Haar trocknet sie Jesu Füße und salbt sie mit kostbarem, wohlriechendem Öl, das sie eigens mitgebracht hat. Das Problem: Jeder am Tisch weiß: Diese Frau ist eine Prostituierte. Doch zur Verwunderung aller und besonders seines Gastgebers stört Jesus sich nicht daran. Er kennt die Frau: Sie ist seinetwegen da, sie hat erlebt, dass Jesus sie ernst nimmt und nicht verurteilt, das weckt den Menschen in ihr, sie fühlt sich befreit, sie will etwas zurückgeben von der Zuwendung, die sie erfahren hat. 

All das erscheint in dieser Geschichte wichtiger als ein störungsfreies Abendessen. Gestört wird dort nur das scheinbar geordnete Leben, damit es sich wandeln kann. Eigentlich sollte ich der Frau in unseren Versammlungen dankbar sein. Immerhin hat sie mich, wenn auch sehr provozierend, an eine christliche Grundhaltung erinnert. Ich glaube an den Gott, der, wie es ein Psalmwort sagt, „den Schwachen aus dem Staub emporhebt und den Armen erhöht, der im Schmutz liegt" (Psalm 113,4.7).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16219
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