Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ich war dreißig Jahre Lehrer und ich habe jeden Tag genossen". Das hat ein Lehrer gesagt als er in den Ruhestand gegangen ist, in seiner Abschiedsrede vor uns Kollegen. Als ich das gehört habe, habe ich ungläubig die Stirn gerunzelt: Ein Genuss, an unserer Schule zu unterrichten, jeden Tag? Für mich war es das oft nicht! - Aber dann hat mein Kollege sein positives Fazit begründet. Er hat gesagt: „Es gab auch unangenehme Dinge, aber es gab keinen Tag, an dem nicht auch was schönes dabei war". Dieses eine Schöne hat für ihn im Vordergrund gestanden. Die schlechten Erfahrungen konnten das nicht zudecken. 

Er hat es genau so gemacht, wie Evi, eine der Hauptfiguren in Zsuzsa Banks Roman „Die hellen Tage": „Die hellen Tag behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück". Diesen Satz sollte sogar auf Evis Grabstein stehen. So hat sie es sich selbst gewünscht. Mich hat das sehr beeindruckt, denn helle und dunkle Tage - im Leben jedes Menschen gibt es ja beides. Und ich finde in Evis Grabstein-Spruch steckt ein guter Ratschlag, damit umzugehen. „Die hellen Tag behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück". 

Viele Menschen machen es umgekehrt: Für sie stehen die dunklen Tage so sehr im Vordergrund, dass sie darüber fast vergessen, dass es auch helle gibt. Das Schlimme, das Menschen in ihrem Leben passiert, wird so groß, dass es das Gute überragt und verdeckt. Evis Spruch fordert dazu auf, es umgekehrt zu machen: Das Gute soll man festhalten und das Schlechte loslassen - so wie es mein Lehrerkollege gemacht hat. 

Die hellen Tage behalten, das muss man richtig einüben. In denke, dazu gehört, dass ich bewusst nach den guten Dingen suche. Vielleicht nehme ich mir am Ende eines Tages oder einer Woche Zeit und frage: Was war eigentlich gut? Was gab es an hellen Momenten an diesem Tag und an hellen Tagen in dieser Woche? Ich  bin sicher, dadurch behalte ich einiges, was sonst leicht verloren geht. 

Und wie lasse ich die dunklen Tage los? Sie einfach ignorieren funktioniert nicht. Dafür richten sie zu viel in uns an. Evi aus dem Roman ignoriert sie auch nicht, sondern gibt sie zurück - dem „Schicksal", wie es auf ihrem Grabstein heißt. Ich würde statt „Schicksal" „Gott" sagen. Die dunklen Stunden Gott zu bringen heißt für mich: Ihm sagen, was mir das Leben schwer macht und womit ich zu kämpfen habe. Es heißt aber auch: Ich traue Gott zu, dass er das Dunkle in meinem Leben einmal hell machen und es verwandeln wird. Evis Grabstein erinnert mich daran, dass das vielleicht nicht in diesem Leben geschieht, aber im nächsten.

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