Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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"Eine Religion, in deren Zentrum eine Hinrichtungsszene steht, finde ich abstoßend." Das sagt der Arzt Amadeu de Prado, eine Figur im Roman "Nachtzug nach Lisabon". "Stell dir vor, es wäre ein Galgen gewesen, eine Guillotine oder eine Garotte. Stell dir vor, wie unsere religiöse Symbolik dann aussähe." lässt der Autor Pascal Mercier den Arzt sagen. (S. 146) Das klingt abstoßend.
Im Zentrum der christlichen Religion steht tatsächlich eine Hinrichtungsszene. Es hätte auch ein anderes Folterinstrument sein können. Die Römer kreuzigten nun mal vor 2000 Jahren ihre Feinde und solche, die sie für Verbrecher hielten. Diese Tötungsmethode war grausam. Sie sollte abschreckende Wirkung haben. Dass das für manche Menschen heute noch abstoßend wirkt, allein das Bild, allein die Darstellung eines Gekreuzigten, kann ich verstehen. Das christliche Symbol des Kreuzes wurde in der Geschichte ja auch oft missbraucht. Es ist widersinnig, dass ausgerechnet im Zeichen des Kreuzes viele Gräueltaten verübt wurden, dass Menschen unterdrückt und gefoltert wurden.

Wichtig ist, dass das Kreuz, das Leiden ja nicht das Ende oder das Ziel des christlichen Glaubens ist, sondern die Überwindung des Todes. Das sollte man nicht vergessen. Christen glauben an die Auferstehung, an das Leben, an die Wandlung. Es ist nicht Sinn und Zweck im Leiden zu verharren. Es geht nicht darum, ein Folterinstrument zu verehren, eine Hinrichtungsszene zu glorifizieren oder zu verharmlosen. Leid und Schmerz, ja der Tod selbst darf nicht verleugnet, übersehen oder heruntergespielt werden. Es ist was es ist: Hart, schmerzhaft, traurig, manchmal fast nicht zum Aushalten. Die geschundene Figur des Jesus von Nazareth zeigt, wie grausam Menschen sein können. Sie erinnert daran, dass wir nicht wegschauen sollen, wenn Unrecht geschieht. Das Kreuz, der Gekreuzigte ist Symbolträger dafür, dass wir endlich sind, verletzlich und schwach. Er zeigt die menschlichen Abgründe und Schwächen. Schonungslos. Und das sollten wir aushalten. Und genau da hilft mir meine Religion und mein Glaube: Ich kann mir der Solidarität des Gekreuzigten sicher sein. Dem Gott Jesu ist Leid und Schmerz nicht fremd. Er macht mir Mut, nicht unter dem Kreuz stehen zu bleiben. Jesus gibt mir die Hoffnung und den Glauben, dass das nicht das Ende ist. Die Geschichte kann weitergehen, durch den Schmerz hindurch. Diese Transformation geht nicht automatisch, dafür gibt es keine Garantie. Aber der Glaube an die Wandlung kann mich unterstützen, mir Kraft geben durchzuhalten, weiter zu gehen, immer wieder auf zu stehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15650
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